Matthias Kunze ist ein wandelndes Geschichtsbuch. Er weiß zum Beispiel, dass ein Mitglied seines Heimatvereins „Historia Elstal“ einst im „Speisehaus der Nationen“ geboren wurde, als die zeitweilige Kantine der Olympiateilnehmer von 1936 nach den Spielen zum Krankenhaus umfunktioniert worden war, zum Lazarett der Wehrmacht.
Oder dass sich die Athleten aus der Sowjetunion vor den Sommerspielen von 1972 in München hier wochenlang auf ihre Wettbewerbe an der Isar vorbereiteten. Oder dass die Soldaten der Roten Armee, die von April 1945 bis 1992 das Gelände als Kaserne und „Wohnstädtchen“ für Offiziere und ihre Familien nutzten, ihre Kaufhalle („Magasin“) auch für die DDR-Bevölkerung von Elstal öffneten.
Zugleich ist Kunze, Einzelhändler und Urgestein der Gemeinde, ein Mann mit verschmitztem Humor: „Vorsicht Tretminen“, warnt der ehrenamtliche Fremdenführer eine Besuchergruppe beim Rundgang. Eine Dame aus Franken erschrickt: „Sind die noch von den Russen?“ Allgemeines Gelächter, Kunze meinte natürlich nur die Hundehaufen auf der Wiese vor dem Bauzaun, hinter dem das „Haus Jesse Owens“, weitere Sportlerunterkünfte sowie Schwimm- und Sporthalle auf ihre Sanierung warten. Kunze kann seine Genugtuung über den sichtbaren Bauboom ringsum nicht verbergen. In den letzten Jahren ist die Einwohnerzahl des 100 Jahre alten Elstal geradezu explodiert – von 1300 auf 6000. Und es werden immer mehr, denn das „historisch kontaminierte Gelände“, wie es der Geschäftsführer des Immobilien-Investors Terraplan, Erik Roßnagel, kürzlich nannte, ist endlich aus dem Dornröschenschlaf erwacht.
Olympisches Dorf Elstal: Nicht alles ist G.O.L.D., was dort steht
Nicht erst nach dem Abzug der Sowjets war das Terrain eine ganze Weile dem Verfall preisgegeben. Schon zuvor wurden große Teile des ehemaligen Olympischen Dorfes, 16 Kilometer vom Olympiastadion entfernt, abgerissen und von militärischen Anlagen, Freizeiteinrichtungen sowie acht Blockbauten mit Soldatenwohnungen verdrängt.
Inzwischen erfüllt neues Leben das Ensemble an der Rosa-Luxemburg-Allee in der brandenburgischen Gemeinde Wustermark. Das Projekt trägt den beziehungsreichen Namen „G.O.L.D“, die Abkürzung steht für „Gartenstadt Olympisches Dorf“. Der erste Bauabschnitt wurde im letzten Jahr abgeschlossen – die Instandsetzung und Neunutzung von „Speisehaus der Nationen“ und „Haus Central“, dazu 20 Häuser eines neuen Wohnviertels auf dem Boden des ehemaligen Sportlerdorfes, die allesamt internationale Städtenamen tragen wie ihre Vorgänger. Der nächste Bauabschnitt, die nach dem deutschen Leichtathleten Luz Long benannte Wohn- und Gewerbeanlage, entsteht in den entkernten Bestandsgebäuden aus der Sowjetzeit.
Das Speisehaus wird schon bewohnt
Mittelpunkt und Prunkstück des bereits fertiggestellten Areals ist das ellipsenförmige „Speisehaus“, in dem sich die Olympiateilnehmer von 1936 in 40 Speisesälen (einer für jede Nation) von eigenen Köchen verwöhnen ließen, an Tischen für 20 bis 300 Personen. „Eigentlich war Alkohol damals streng verboten“, weiß Matthias Kunze zu berichten, „doch Franzosen und Italiener ließen sich ihr Glas Wein zum Abendessen ebenso wenig verbieten wie Belgier und Holländer ihr aus der Heimat mitgebrachtes Bier“.
Heute beherbergt der renovierte Vierstöcker insgesamt 111 Wohnungen, das vorgelagerte „Haus Central“ wird als Blockheizwerk genutzt. An die ursprüngliche Bestimmung des 100 Meter langen Gebäudes wird an vielen Stellen erinnert – die Fassade des „Speisehauses“ ziert ein Zitat des viermaligen Goldmedaillengewinners Jesse Owens: „We all have dreams. In order to make dreams come into reality, it takes an awful lot of determination, dedication, self-discipline and effort.“
Exponate erinnern an die Geschichte
Auf dem Flur des komplett bewohnten „Speisehauses“ sind in 60 Vitrinen Fotos, Dokumente und Devotionalien der Olympischen Spiele und der anschließenden Jahrzehnte ausgestellt, Geschirr, Kleidung, Alltagsgegenstände von Sportlern und Soldaten, darunter eine Olympische Fackel. An einigen Stellen des Hauses sind Wandreliefs, Fußbodenkacheln und (teilweise kyrillische) Beschriftungen im Originalzustand erhalten.
Bei schönem Wetter und guter Fernsicht steigt Matthias Kunze mit seinen Besuchern aufs Dach: „Da hinten erkennt man die Türme des Olympiastadions.“ Und die Weiten der Döberitzer Heide, die der Wehrmacht vor den Spielen von 1936 als Übungsgelände und Flugplatz des „Richthofen-Geschwaders“ dienten. Außerdem war Elstal vor dem Zweiten Weltkrieg Standort eines großen Rangierbahnhofs und einer Siedlung für Eisenbahner.
Aufklären statt verherrlichen
Für den Nürnberger Investor Terraplan, der auf den sensiblen Umgang mit geschichtsträchtigen Altbauten spezialisiert ist, war von Anfang an klar, dass er sich auch darum kümmern musste, den Erinnerungscharakter des „Speisehauses“ und der übrigen Restbestände des Olympischen Dorfes deutlich werden zu lassen. „Aufklärung statt Verherrlichung“, so lautet nach Wunsch von Geschäftsführer Roßnagel das Motto. Für informative Schilder, Plaketten und Stelen hat das Unternehmen eine halbe Million Euro springen lassen. Und die ortskundigen Mitglieder von „Historia Elstal“ dürfen interessierte Besucher durch das inzwischen privat genutzte Gebäude führen, in dem einst die besten Sportler der damaligen Welt bewirtet wurden.
Vielleicht bekommt Berlin ja demnächst noch ein zweites Olympisches Dorf. Jedenfalls haben sich CDU und SPD bei ihren jüngsten Koalitionsverhandlungen darauf verständigt, sich beim IOC um die Sommerspiele 2036 oder 2040 zu bewerben. Ob da die Bevölkerung mitmacht, steht ebenso in den Sternen wie die Frage, was der Rest der Welt davon hält, genau 100 Jahre nach den von Adolf Hitler und seinem NS-Staat inszenierten Spektakel Olympische Spiele in der deutschen Hauptstadt auszurichten, dieses Mal freilich unter demokratischen Vorzeichen.
Eine Unterkunft für die heute rund 12.000 Sportler aus über 200 Ländern würde für Berlin zum Kraftakt, schließlich fehlen in der Stadt schon heute Zehntausende Wohnungen für die 3,8 Millionen Einwohner. Womöglich käme also wieder der Speckgürtel als Bauplatz für ein Athletenquartier in Betracht.
Internetauftritt des Investors: https://terraplan.de