Das gerade von ägyptischer Gefangenschaft befreite Volk Israels irrte durch die Wüste. Fast am Verdursten kam es endlich an einen Brunnen. Das Wasser darin aber war bitter. Erst das verdorrte Holz von Wüstenbäume machte es wieder genießbar. Rabbiner Vogelstein erzählte der heranwachsenden Hertha Gordon in ihrer Heimatstadt Königsberg diese biblische Geschichte aus dem zweiten Buch der Thora.
„Bittere Brunnen“ heißt auch das Buch von Regina Scheer über die jüdische Revolutionärin (1894-1990). Auch wenn für sie das Jüdische lange Zeit zurücktritt hinter der Sache, für die sie kämpft, bis sie erfährt, was Juden erdulden mussten unter den Faschisten: Hertha wird ein Leben lang danach suchen, dem Brunnen die Bitterkeit zu nehmen. Für dieses Buch hat sie am 27. April den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Sachbuch gewonnen.
„Say a mentsch“ gab der Vater Isaak Gordon seinen Töchtern auf den Weg. Alles andere sei unwichtig. Der Satz in jiddischer Sprache nistete sich auch in Herthas Kopf ein. Mehr wohl noch in ihr Herz. Schon als junges Mädchen wurde sie von einer unbestimmten Sehnsucht fortgetrieben, getragen von einer Melodie, die ihr gegen alle Vernunft zeitlebens Zukunftsgewissheit schenkte. Als ihre Eltern russischen Sozialrevolutionären Herberge boten, stimmten diese ein Lied an, das Hertha nie vergaß: „Smelo towarischtschi w nogu“. Das frühe russische Revolutionslied gab ihr auch in der deutschen Nachdichtung eine unbezwingbare Kraft, selbst im Scheitern: „Brüder zur Sonne, zur Freiheit...“

Schon als Kind zu Gast bei Gordon-Walcher

Regina Scheer, Jahrgang 1950, die sich als große Erzählerin deutscher Geschichte einen Namen gemacht hat, ist Hertha Gordon-Walcher schon als Kind begegnet. Jahrelang lauscht sie in ihrem kleinen Haus in Berlin-Hohenschönhausen den Geschichten der jüdischen Kommunistin. Gut vorstellbar, dass sie dabei in den weichen, etwas klobigen Autositzen von Bertolt Brecht saß, die der berühmte Dramatiker den Walchers als Sessel überließ. Regina Scheer ist die Stieftochter von Walter Schlieper, ein Freund der Walchers, der sich in der französischen Emigration das Pseudonym Maximilian Scheer zulegt, das er auch als Schriftsteller beibehält.
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Bei den Walchers aber fühlt sich Regina Scheer weitaus mehr zu Hause, wie sie beschreibt. Hier taucht sie ein in eine ihr verborgene Welt voller Namen, die in den Geschichtsbüchern stehen oder heute vielfach vergessen sind. Allein das umfangreiche, sorgsam zusammengestellte Namensverzeichnis in ihrem Buch ist beachtenswert. Es holt Menschen aus der Vergessenheit.

Tee aus Tassen von Helene Weigel

Die Studentin der Theater- und Kulturwissenschaft ist noch nicht 20, als Jacob Walcher 83-jährig nach unsäglichen Auseinandersetzungen und Anfeindungen aus den eigenen Reihen als „Verdienter Veteran der Arbeiterklasse“ stirbt. Fortan kommt sie regelmäßig zu Hertha Gordon-Walcher. Sie trinken aus „Helis Meißner Teetassen“, ein Geschenk Helene Weigels.
Und auch wenn die Gastgeberin klein und zerbrechlich erscheint, daran gewöhnt ist, sich unsichtbar zu machen: Ihre Geschichten offenbaren, selbst wenn sie die der Weggefährten immer wieder in den Vordergrund rückt: Hertha Gordon-Walcher war mehr als die Frau des Mitbegründers der KPD, die zu Jacob Walcher hielt, für ihn schrieb. Sie war Clara Zetkins Sekretärin und Vertraute, arbeitete in Lenins Auftrag für Karl Radek, im Zentrum der Komintern und musste bei Stalin zu Tisch sitzen. Sie war mittendrin in erbitterten Kämpfen gegen den Faschismus und für eine Einheitsfront gegen den Krieg. Sie unterwies Willy Brandt in der Kunst, unsichtbare Tinte herzustellen und besorgte ihm im Exil Unterschlupf - und ein Fahrrad. In der DDR half sie Verfemten. Beseelt von dem großen Traum einer gerechten, menschlichen Gesellschaft, von dieser unversiegbaren, doch immer wieder enttäuschten Hoffnung, musste sie ein Leben lang auf der Hut sein. Nicht nur vor den Feinden, sondern auch vor den Freunden. Denn immer wieder bekam sie zu spüren, „die gute Sache in schlechten Händen“.

Mitschreiben verboten bei den Gesprächen

Als sie mit 96 Jahren kurz nach der Wiedervereinigung starb, war Regina Scheer 40 Jahre alt. Aber es dauerte noch einmal mehr als dreißig Jahre, bis die Schriftstellerin die Erinnerungen von Hertha Gordon-Walcher zu Papier brachte. Was umso schwieriger war, da die greise Kommunistin darauf bestand, dass sie während der Gespräche weder protokollierte, noch ein Tonband mitlaufen ließ. Erst im Taxi konnte sie sich ein paar Notizen machen. Sie bewahrte sie jahrzehntelang in einer Mappe.
Das Buch, das nun entstanden ist, liest sich wie ein Jahrhundertroman, der weit über eine Biografie von Hertha Gordon-Walcher hinausgeht. Sie hat ihr Leben ja immer dem Traum von der Revolution untergeordnet. So ist es auch ein schwergewichtiges Buch über diesen so oft beschädigten Traum, der immer wieder auflodert, so oft er auch zu erlöschen droht, geschürt und erstickt unter den Genossen, die sie „Familie“ nennt, auch wenn diese sie immer wieder anfeinden, ausschließen, zu zerstören suchen.

Wie gelingt es, nicht zu verbittern?

Regina Scheer spiegelt die Lebenserinnerungen aus der Sicht der begierig, aber auch manchmal ratlos Zuhörenden, der Enkelgeneration, die nach Antworten sucht. Auch auf die Frage: Warum bleibt eine Zeitzeugin für die andauernde Desillusionierung in Kaiserreich, Weimarer Republik, „Drittem Reich", Exil und DDR ihren Idealen treu? Wie gelingt es, nicht zu verbittern? Die Autorin bewertet nicht, sie erzählt. Akribisch sucht sie nach Belegen, Briefen, recherchiert in Archiven, in der Literatur. Und so entfaltet sich das Panorama einer mörderischen Epoche und zugleich das aufregende, aufwühlende Leben einer Frau, von der Brecht-Biograf Werner Mittenzwei an ihrem Grabe sagt, dass man von ihr lernen könne, wie Niederlagen zu ertragen sind. Er wollte auch ihre Biografie schreiben. Dazu ist es nicht mehr gekommen.
Regina Scheer, die sich einmal mehr als eine der wichtigsten Stimmen der Gegenwart erweist, setzt ihr nun einen sehr persönlichen Erinnerungsstein. Das Berührende ist der respektvolle, menschlich warme Ton ihrer Erzählung. Es ist, als sehe man die Hoffnungsvolle, unerschütterlich Träumende, Scheiternde, Ausgeschlossene vor sich, mit nur einem ganz leichten Anflug von Bitternis. Auch ihre Gefährten verschwinden nicht hinter vergilbendem Papier. Die Autorin gibt dürren, aus heutiger Sicht oft schwer verständlichen Fakten und geschichtlichen Vorgängen ihre menschliche Dimension zurück, die wohl auch aus doppelter Zeitzeugenschaft erwächst.
Auch Regina Scheer hat aus dem „Bitteren Brunnen“ trinken müssen. Sie arbeitete in der DDR für eine Zeitung, deren Redaktion wegen „konterrevolutionärer Tendenzen“ aufgelöst wurde.
Regina Scheer: „Bittere Brunnen. Hertha Gordon-Walcher und der Traum von der Revolution“. Penguin-Verlag. 697 Seiten, 30 Euro