„Neue Horizonte eröffnen sich dann, wenn man das feste Land aus dem Blick verliert“, ist eine Erfahrung der Architektin Zaha Hadid. So ist das mit der Kunst - sofern man bereit ist, aus seinem eingefriedeten Dasein herauszutreten, ins Offene. Das meinte Friedrich Hölderlin 1801 mit dem berühmt gewordenen Vers „Komm! Ins Offene, Freund! Zwar glänzt ein Weniges heute/ Nur herunter und eng schließt der Himmel uns ein...“
Aus einem anderen Blickwinkel aufs Leben schauen – das klingt nach einer Einladung ins Theater am Rand, nach Zollbrücke, wo ab 31. März das dreitägige Festival „Kunst ist Leben“ auf dem Spielplan steht, das gleichsam als Auftakt für die übers Jahr reichende Veranstaltungsreihe „Freies Wort – Freie Musik“ gelten kann.
Verlässt gewohnte Pfade: Das "Theater am Rand" in Zollbrücke im Oderbruch. Gegründet wurde es 1997 von Tobias Morgenstern und Thomas Rühmann.
Verlässt gewohnte Pfade: Das "Theater am Rand" in Zollbrücke im Oderbruch. Gegründet wurde es 1997 von Tobias Morgenstern und Thomas Rühmann.
© Foto: Stefan Schick
„Das Theater am Rand hat seit seinem Bestehen ein Repertoire auf dem Spielplan, das abweicht vom Üblichen, das seinen Besuchern das Besondere entdecken möchte. Dazu zählt auch die seit 15 Jahren bestehende Reihe ‚Randthema“, die sich in 50 Veranstaltungen mit brisanten Fragen unseres Alltags wie Umwelt, Politik, Finanzwirtschaft, regionalen Problemen auseinandersetzte“, erinnert Tobias Morgenstern, einer der beiden Chefs des Theaters.
Aus dem Randthema entfaltete sich das künstlerische Format „Freies Wort – Freie Musik“, das Morgenstern mit der Journalistin und Autorin Gabriele Gillen, die seit Oktober 2022 Beisitzerin im PEN-Präsidium ist, im vergangenen Jahr initiierte. Als Komponist, als Akkordeonist ein begnadeter Improvisateur, ist die Freiheit des Geistes, des Seins ein Wesenszug des Musikers Tobias Morgenstern - der folglich schmerzlich mit den restriktiven Maßnahmen des Staates in Zeiten der Corona-Pandemie kollidierte.
Ähnlich erging es Kollegen. Die Schauspielerin, Malerin und Schriftstellerin Philine Conrad gründete 2021 die Initiative „Kunst ist Leben“, ein Netzwerk von Künstlern aus verschiedenen Sparten. „Über ein Jahr lang waren die Theater geschlossen, die Konzertsäle zu, der Zugang zu Kunst und Kultur versperrt. Die Musik, das Spielen, der Tanz, das Dichten, das Filmen, das Malen, das Singen … ist nicht nur ein Job – es ist die Luft, die wir atmen, die unsere Gesellschaft atmet“, liest man in der Begründung.
Heute wissen wir, welche Spuren das auch bei uns hinterlassen hat, in der langen Einsamkeit zu Hause. Es schieden sich die Geister. Wie auch gegenwärtig über die Folgen des Krieges in der Ukraine und den expliziten Streit über die Waffenlieferung aus dem historisch stigmatisierten Deutschland in das Kriegsgebiet. Doch dies sind nicht die einzigen Divergenzen, die momentan unser Miteinander verhageln. Zeit, wieder ins Offene zu treten.
Dass das nicht leicht ist, zeigt die Reaktion auf ein erstes von „Kunst ist Leben“ im Januar 2022 in Bayern veranstaltetes Festival, das nach dem ersten Tag von Kulturmanager Erich Höhne, der Pächter des Veranstaltungsorts Marstall in Berg, abgebrochen wurde. „Die Kulturveranstaltung lief Gefahr, in eine politische Richtung abzudriften entgegen den Absprachen mit den Veranstaltenden“, zitierte ihn die „Süddeutsche Zeitung“. Im Theater am Rand fand das Festival „Wir spielen weiter“ im Mai 2022 dann statt.

Gesellschaftlich heiß diskutierte Themen

Sowohl das Festival „Kunst ist Leben“ als auch die Reihe „Freies Wort - Freie Musik“ bieten moderierte Gespräche zwischen Experten und Publikum über heiß diskutierte gesellschaftliche Themen, dazu viel Musik von Künstlern, die sich einmischen in den (Welt)Alltag. „Vom Untertan zum Souverän“, „Die Wirklichkeit als mediales Produkt“, Wissenschaften zwischen Analyse und Legitimation“, „Der Krieg in mir“, „Das Schweigen der Jugend“ sind einige der Themen.

Festival „Kunst ist Leben“ vom 31.3. bis 2.4.2023

31. März, 19:30 Uhr: Die alte Normalität. Musik und Gespräch mit der neuen Band „DaN – Die alte Normalität“. Moderation: Kenneth Anders (Kulturwissenschaftler, Autor)
1. April, 15 Uhr: René Schlott liest Václav Havel: „Versuch in der Wahrheit zu leben“
16 Uhr: Konzert mit Jörg Seidel (Gitarre), André Krengel (Gitarre) und Thomas Prokein (Geige)
17 Uhr: Vom Untertan zum Souverän Wie wir als Bürger wieder in die Eigenverantwortung kommen. Philine Conrad spricht mit Raymond Unger über sein neues Buch
18 Uhr: THREEatONCE – Das Minifestival. Die drei Poeten Alexa Rodrian, Lüül & Jens Fischer Rodrian treffen sich zu einem Triplekonzert.
20 Uhr: Leicht sein heißt frei sein. Ein Konzert mit Markus Stockhausen (Trompete) und Alireza Mortazavi (Santur)
2. April, 11 Uhr: Die Wirklichkeit als mediales Produkt. Es spricht der Kommunikationswissenschaftler Michael Meyen
16 Uhr: Das mediale Produkt als Wirklichkeit. Der Journalist Jens Lehrich spricht über über die Selbstermächtigung, neue und eigene Wege zu finden und die Entschlossenheit, sie auch zu gehen, Tobias Morgenstern spielt freie improvisierte Musik. Moderation: Philine Conrad
Infos unter theateramrand.de
Zu Gast sind u.a. der Historiker, Publizist und Journalist René Schlott, der Trompeter Markus Stockhausen, Gründer des Musiker-Netzwerks „Musik in Freiheit“, der persische Avantgarde-Musiker Alireza Mortazavi, der Intendant der Jazztage Dresden Kilian Forster, der Bildende Künstler und Autor Raymond Unger, der Kommunikationswissenschaftler Michael Meyen, der Cicero-Journalist Ben Krischke, der Kontrabassist Matthias Bauer, die Geiger Simon Drees und Jansen Folkers, Posaunist Micha Winkler, der Akkordeonist Tobias Morgenstern...
Das alles ein „Soundtrack für die Fantasie der Leute“ wie der Gitarrist, Sänger, Poet Jens Fischer Rodrian, der ebenfalls in Zollbrücke auftritt, seine Musik charakterisiert? „Wir wollen Raum für einen freien Diskurs über Fragen in unserer Gesellschaft öffnen, die Menschen bewegen. Und darüber, welche Bedeutung Kunst und Medien in diesen Prozessen haben. Was macht eine Demokratie aus? Streitgespräch auf Augenhöhe miteinander, ohne Furcht vor Ausgrenzung, vor Diffamierung, mit dem Ziel, wieder zusammenzufinden, trotz unterschiedlicher Meinungen“, formuliert es Philine Conrad. „Gerade in Zeiten von gesellschaftlichen Umbrüchen und Krisen ist die Kunst die Form der Kommunikation, die das Potenzial hat, das zutiefst Menschliche offenzulegen und Impulse für eine Erneuerung der gesellschaftlichen Systeme zu geben. Kunst muss frei sein“, ist Tobias Morgenstern überzeugt.
AKTUALISIERUNG der Red.: Michael Meyen, der am 2.4. im Rahmen des Festivals einen Vortrag über „Die Wirklichkeit als mediales Produkt“ halten sollte, ist seit April Mit-Herausgeber der Zeitschrift „Demokratischer Widerstand“. Die Professorinnen und Professoren des Instituts für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung der Ludwig-Maximilians-Universität in München, an dem Meyen als Professor lehrt, distanzierten sich von der Publikation: „Die Wochenzeitung steht der ,Querdenken‘-Bewegung und sogenannten ,Neuen Rechten‘ nahe. (...) Zudem unterstützt der ,Demokratische Widerstand‘ in seiner aktuellen Ausgabe durch den Abdruck einer Anzeige die rechtsextremistische Zeitschrift ,Compact‘“, heißt es in einer am 1.4. veröffentlichten Stellungnahme. Zuvor hatte die „Süddeutsche Zeitung“ berichtet.

Die Reihe „Freies Wort – Freie Musik“

22. April, 19:30 Uhr: Journalismus, Handwerk und Freiheit Ein Gespräch mit dem Cicero-Journalisten Ben Krischke über die Rolle des Journalismus in den Gegenwartsdiskursen, Musik: Tobias Morgenstern (Akkordeon) und Jansen Folkers (Violine) Moderation: Kenneth Anders
5. Mai, 19:30 Uhr: Wissenschaften zwischen Analyse und Legitimation Ein Gespräch mit der Historikerin und Soziologin Dr. Sandra Kostner über ihr Buch „Pandemiepolitik. Freiheit unterm Rad?“ und mögliche Rollen der Wissenschaft im Spannungsfeld von Kritik und politischer Legitimation, Musik: Tobias Morgenstern (Akkordeon), Matthias Macht (Schlagzeug) und Micha Winkler (Posaune) Moderation: Kenneth Anders
4. Juni, 11 Uhr: Gespräch und Klänge Der Gast wird noch bekanntgegeben. Es improvisieren Simon Drees (Violine), Matthias Bauer (Kontrabass) und Tobias Morgenstern (Akkordeon) Moderation: Philine Conrad
18. August, 19.30 Uhr: Der Krieg in mir. Gespräch mit dem Filmemacher Sebastian Heinzel über seinen Film „Der Krieg in mir“, seine Arbeit als Filmemacher und neue Wege. Wir zeigen einen Ausschnitt aus dem Film. Moderation: Philine Conrad
30. September, 19.30 Uhr: Das Schweigen der Jugend. Die Autorin Madita Hampe von der Rubikon-Jugendredaktion im Gespräch über die Notwendigkeit ausgetragener Generationskonflickte und die fatale Rolle der etablierten Älteren. Moderation: Kenneth Anders, Musik: Tobias Morgenstern und Gäste
Weitere Veranstaltungen werden demnächst unter theateramrand.de online gestellt