Im Anhang ihres Buches haben Karsten Reise und Hella Kemper eine Liste mit Strand-Empfehlungen abgedruckt, vom Blankeneser Elbstrand bis zur Ostplate auf Spiekeroog und den Wanderdünen von Leba an der polnischen Ostseeküste. Strände haben die beiden, eine „Zeit“-Journalistin und ein Meeresbiologe, jede Menge besucht, gemeinsam und allein.
Nun haben sie ein Buch geschrieben über jenes Zwischenland, das nicht ganz Meer ist und nicht ganz Land, weder fest noch flüssig, sondern ein ewig wandelbarer Zwischenraum. Wer derzeit einen Urlaub an der Ost- oder Nordsee plant, dem sei das im KJM-Verlag erschienene Bändchen unbedingt fürs Strandgepäck empfohlen.

Dauergespräch beim Strandspaziergang

„European Essays on Nature and Landscape“ nennt der in Hamburg ansässige Verlag seine seit Frühjahr 2023 erscheinende Reihe, die schon Veröffentlichungen zu Heide und Bäumen und jetzt eben auch zum Strand aufweist. Das System ist einfach: Die Autoren haben freie Hand, ihren persönlichen Zugang zu wählen, die Bücher werden „klimapositiv“ produziert, und dazu wird ein Künstler engagiert, im Fall des Strand-Buches Rüdiger Tillmann, der schöne Federzeichnungen der Strandlandschaften beigesteuert hat.
Worum geht es? Es ist eine Art Dauergespräch zwischen Wissenschaft und Kunst, persönlichen Erlebnissen und historischen Informationen – man kann sich gut vorstellen, dass Kemper und Reise dieses Gespräch geführt haben, während sie am Strand entlang wanderten, auf Sylt zum Beispiel oder auf Spiekeroog. Dabei lernt man den Skagen-Maler Peder Severin Kroyer kennen oder auch Max Beckmann mit seinen Strandbildern im holländischen Exil, man lernt aber auch, wie Wellen den Strand formen und welche Rolle die winzigen Tierchen der Sandlückenfauna spielen, erfährt vieles über Muscheln, Krebse und Algen und natürlich auch über die Entwicklung des Tourismus und unser Verhältnis zum Meer. Das ist manchmal wissenschaftlich verschroben und etwas nerdig, aber immer von Begeisterung getragen und ausgesprochen lehrreich.
Eiskristalle bilden Bänder am gefrorenen Strand: Meeresbiologe Karsten Reise ist im Nebenjob Strand-Fotograf.
Eiskristalle bilden Bänder am gefrorenen Strand: Meeresbiologe Karsten Reise ist im Nebenjob Strand-Fotograf.
© Foto: Karsten Reise

Eine Kulturgeschichte des Strandes

Strandbücher scheinen gerade im Mode zu sein, passend zur Ferienzeit. Schon im vergangenen Jahr hatte Bettina Baltschev im Berenberg-Verlag mit „Am Rande der Glückseligkeit. Über den Strand“ eine höchst lesenswerte Kulturgeschichte verschiedenster Strände, von Scheveningen bis Ischia und von Brighton bis Benidorm, vorgelegt.

Die dunkle Geschichte der Ostseebäder

Ein sehr verdienstvolles Unterfangen hat sich die Hamburger Autorin und Journalistin Kristine von Soden mit ihrer Untersuchung „Ob die Möwen manchmal an mich denken? Die Vertreibung jüdischer Badegäste an der Ostsee“ vorgenommen.
Sie erzählt, in zweiter, erweiterter Auflage, sozusagen die dunkle Seite der deutschen Strandbegeisterung, indem sie in einer Wanderung von Ost nach West, von Kolberg bis Kühlungsborn, minutiös nachvollzieht, wie sich in den 1920er- und 1930er-Jahren die Stimmung in den Ostseebädern erst allmählich und dann immer rapider und unverhohlener ändert. Wie in Annoncen für Ferienquartiere erst „Empfohlen durch den Deutschen Offiziersverein“ steht und dann ein Hakenkreuz auftaucht, während jüdische Zeitungen schon um 1900 sogenannte Bäderlisten veröffentlichen von Orten, wo Juden nicht erwünscht sind, und Annoncen, die rituelle Verpflegung verheißen. Gleichzeitig tobt ein „Flaggenkrieg“ an den Strandburgen, schon 1920 bemüht man sich in Zinnowitz zum Beispiel um die „Freihaltung des Ostseebads für deutschblütige Kurgäste“.

Gewidmet ist das Buch Irma, Mirjam und Sonja

Auch das ist eine Kulturgeschichte, oder eher eine Unkulturgeschichte, die die begeisterten Badbesucher von Else Lasker-Schüler über Käthe Kollwitz, Mascha Kaléko, Victor Klemperer und Asta Nielsen porträtiert, die früh allerdings auch schon von Pöbeleien am Strand berichten, aber auch Irma, Mirjam und Sonja Sonnenschein, drei Vollwaisen aus Dresden, die als Elf- bis 13-Jährige mit ihrer Erzieherin in Prerow Urlaub machen, bis 1938 sich ein Badegast schriftlich beim Bürgermeister über die „Judenkinder“ in Strandkorb H.43 beschwert. Den drei Mädchen, die 1943 in Auschwitz ermordet werden, hat Kristine von Soden ihr Buch gewidmet – ihr beklemmendes und gleichwohl spannendes Buch ist eine Pflichtlektüre beim Ostseeurlaub.
Anmerkung: In einer Vorversion wurde der Maler Peder S. Kroyer als Froyer genannt. Dank an Ralf-Michael Kania für den Hinweis.

Bücher über den Strand

● Karsten Reise & Hella Kemper: „Strand – European Essays on Nature and Landscape“, KJM Buchverlag, 140 S., 20 Euro
● Bettina Baltschev: „Am Rande der Glückseligkeit. Über den Strand“, Berenberg Verlag, 250 S., 25 Euro●
● Kristine von Soden: „Ob die Möwen manchmal an mich denken? Die Vertreibung jüdischer Badegäste an der Ostsee“, Aviva, 228 S., 22 Euro