Er selbst nimmt insofern Einfluss, als er Rock ’n’ Roll-Stücke des neuen Genres Diskurs-Schwank schreibt und diese zur kollektiven Erarbeitung als Rohmaterial den Schauspielerinnen zur Lust vorwirft – und mit Kiefernholzkunst aus dem Wald die Form des Theaterraumes gestaltet. Waren es zunächst vor allem die rustikalen Zuschauerbänke und im vergangenen Jahr eine schwer gängige hölzerne Drehbühne, so ist in diesem Jahr die Premiere der Raumbühne gefeiert worden.
Friedrich Kiesler gilt als Erfinder dieses Theaterkonzeptes. Der 1890 im heute ukrainischen Czernowitz geborene Bauhaus-Architekt und Multikünstler entwarf und gestaltete 1924 im Wiener Konzerthaus die Internationale Ausstellung neuer Theatertechnik und stellte dort das Konzept der Raumbühne vor. Ein Jahr später, in der Internationalen Ausstellung der dekorativen Künste und modernen Industrien in Paris, folgte die Steigerung: die Raumstadt, die Vision einer schwebenden Stadt der Zukunft.
Vision vom "schwebenden" Raum
1926 siedelte Kiesler von Wien nach New York über und arbeitete weiter an seinen futuristischen Kunst- und Architekturvisionen, auch für das Theater. In die Annalen gingen das Film Guil Cinema in New York ein, der Entwurf für ein Doppeltheater in Woodstock sowie das sogenannte Space House, ein maßstabsgetreues Modell eines Einfamilienhauses. Kieslers Schaffen war dabei stets von kollektivem Zusammenwirken mit anderen Bauhaus-Künstlern und Architekten, aber auch von radikalen theoretischen Vorstößen und Pamphleten geprägt.
1937 gründete Kiesler an der New Yorker Columbia University die Laboratory For Design Correlation, verfasste zehn Jahre später das "Manifest des Correalismus" und stellte 1950 das erste Modell für ein Endless House in der Kootz New York Gallery aus. Das große Modell des Endless House wurde 1960 im Museum of Modern Art ausgestellt. Kieslers einziges realisierte größere Bauwerk ist der Shrine of the Book (Schrein des Buches) in Jerusalem, den er seit 1957 gemeinsam mit Armand Bartos plante und der im April 1965 in Jerusalem eröffnet wurde. Am 27. Dezember des gleichen Jahres starb Kiesler in New York.
Seine Vision von einer modernen Bühnenkonstruktion beschrieb der Architekt und Designer im Katalog zur Internationale Ausstellung neuer Theatertechnik 1924 in Wien: "Die Raumbühne des Railway-Theaters, des Theaters der Zeit, schwebt im Raum. Sie benützt den Boden nur mehr als Stütze für ihre offene Konstruktion. Der Zuschauerraum kreist in schleifenförmigen elektromotorischen Bewegungen um den sphärischen Bühnenkern. Die von altersher gebräuchliche Form einer zentralen Lagerung der Szene hat mit dem modernen Problem der Raumbühne nichts zu tun."
Matthias Merkle hat sich von Kieslers Theorie inspirieren lassen, seine Fotos und Zeichnungen studiert und sich mit der studierten Architektin Malin Wernecke, die nach ihrem Bachelor-Abschluss ein wenig Praxis-Erfahrung für die Fortsetzung des Studiums in Richtung Innenarchitektur sammeln möchte, an die Konstruktion der Raumbühne gewagt. Als Grundlage wurde die ursprüngliche Drehbühne statisch verstärkt und dynamisch leichter drehbar umgebaut.
Anders als bei Kiesler dreht sich also nicht der Zuschauerraum "elektromotorisch" um den "sphärischen Bühnenkern", sondern die zentrale Raumbühne dreht sich vor den halbrund angeordneten Zuschauerbänken, wobei sie sich rechts und links von den seitlichen Fortsetzungen löst, denn auch dort kann gespielt werden. An den Seiten stehen Holzpodeste. "Die waren früher standardmäßig im klassischen Theater, weil sie sehr variabel bespielt werden können", sagt Merkle. Mit den verschiedenen Podesten lassen sich auch unterschiedliche Aufgangssituationen zur Raumbühne gestalten.
Die Bühne selbst hat zwei Etagen, die über eine fest montierte Leiter verbunden sind. 20 Festmeter märkisches Kiefernholz sind verarbeitet. Hölzerne Doppel-T-Träger halten den oberen Bühnenboden. Sie ruhen auf massiven Stützen. Die Drehbühne hat einen Durchmesser von sechs Metern, die obere Etage ist 6,50 Meter breit. Insgesamt beträgt die Bühnenbreite zwölf Meter, auch die Bühnentiefe. Sie wiegt zweieinhalb Tonnen. Unter dem oberen Boden sind Scheinwerfer montiert. Überhaupt kann die Raumbühne sehr variabel beleuchtet und bespielt werden.
Eine hölzerne Spielwiese
Für die Schauspieler ist es einerseits eine physische Herausforderung, andererseits eine hölzerne Spielwiese, die sie lustvoll auskosten. Dramaturgin Antje Borchardt betont aber: "Es ist eine Bühne, kein Bühnenbild, das muss man bedenken." Die drehende Raumbühne sei selbst und allein Objekt, Skulptur, Architektur, Installation: "Sie ist nicht Ausstattung, sondern Inszenierung des Raumes."
Merkles Raumbühne bildet für die Inszenierungen der Anderen Welt Bühne im Strausberger Wasserwerk nur den Rahmen, in dem das Bühnenbild gestaltet wird. Beim Stück "räuber*innen" bildeten zwei Quadratmeter gewelltes Blech die Projektionsfläche für die Videos von der weiblichen Räuberbande in den Strausberger Wäldern.
Beim Stück "Unvergessen" zu persönlichen Schicksalen im Zweiten Weltkrieg wurden die Zuschauer von einem rußgeschwärzten "Nikolaushaus" überrascht, symbolhaft für die Brandruinen in deutschen Städten, während auf der oberen Bühnenebene Melanie Seeland weiße Kittel auf eine Wäscheleine hängte – Leichenhemden gleich und der Opfer mahnend.
Programm: wasserwerk-theater.com
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