Der polnische Botschafter Andrzej Przyłębski widersprach: Die Sowjetunion hat 1939 Polen angegriffen und die Verteidigung gegen Deutschland unmöglich gemacht. In einer erneuten Replik warf der russische Botschafter Przyłębski vor, "Lügen als historische Fakten darzustellen". Die MOZ bat den Historiker Łukasz Adamski vom Warschauer "Zentrum für polnisch-russischen Dialog und Verständigung", den Schlagabtausch einzuordnen.
Herr Adamski, was ist dran an den Vorwürfen des russischen Botschafters?
Sie spiegeln die aktuellen Richtlinien der Putinschen Außenpolitik wieder, die sicherlich alle Botschafter erhielten. Putin persönlich warf Polen vor, mitverantwortlich für den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges zu sein. Und der russische Botschafter in Polen sagte das Gleiche bereits 2015 im polnischen Fernsehen. Es ist ein Mittel, um Polens Bild als Opfer der NS-Herrschaft und des Kommunismus zu diskreditieren und zugleich die Verantwortung der Sowjetunion zu relativieren.
Was hat Putin zu dieser "Geschichtsstunde" bewogen?
Mehreres. Die Außenpolitiken sind konträr: Polen möchte seine östlichen Nachbarn nah an die EU binden – Putin und seine Anhänger betrachten dies als Einmischung in die "Zone privilegierter Interessen Russlands".  Ein anderer Grund ist die vom Europäischen Parlament beschlossene Resolution zum 80. Jahrestag des Zweiten Weltkriegs im September 2019, die von den östlichen EU-Staaten eingebracht wurde. Und auch der Abriss der sogenannten "Denkmäler der Dankbarkeit für die Rote Armee" seit 2017 in Polen spielt eine Rolle. Der Einmarsch der Roten Armee 1944-45 brachte freilich eine Verbesserung für Polen, sie brachte aber nicht die erhoffte Freiheit.
In Russland hingegen wird der Zweite Weltkrieg als der Große Vaterländische Krieg gefeiert und erfüllt den Zweck einer Ersatzreligion. Es ist der Hauptmoment der russischen Identität, besonders der Putin-Wähler. Sie kultivieren das positive Bild der Sowjetunion, und Polen nehmen sie dabei als Störung war. Polen kämpfte als Erstes gegen Nazi-Deutschland und hatte keine Kollaborationsregierung, daher ist es schwerer zu attackieren als Ungarn, die Ukraine oder die baltischen Länder.
Polen kollaborierte auch, als es 1934 einen Nichtangriffsvertrag mit Hitlerdeutschland schloss, als erstes Land – so die These des Kremls.
Polen unterhielt diplomatische Beziehungen mit Deutschland bis 1939. Was jedoch meist verschwiegen wird: Polen hatte 1932 auch einen Nichtangriffspakt mit der Sowjetunion geschlossen. Und der polnisch-deutsche Nichtangriffspakt enthielt keine Geheimprotokolle, anders als der Hitler-Stalin-Pakt von 1939, der nur zum Schein ein Nichtangriffspakt war. De facto ging es um die Teilung Osteuropas. An diesen Beispielen sieht man das Manipulative an Putins Narration. Er ist ein unprofessioneller Historiker, der Quellen falsch interpretiert.
Hat Polen profitiert vom Münchner Abkommen, indem es die Gunst der Stunde nutzte und das Olsa-Gebiet besetzte?
Ja. Präsident Lech Kaczyński hat dies 2009 in Danzig als "kurzsichtigen Schritt" und als "Sünde" bezeichnet und um Vergebung gebeten. In dem kleinen Olsa-Gebiet lebte eine polnische Mehrheit. 1920 war es umstritten zwischen der Tschechoslowakei und Polen, letztlich erhielt es die Tschechoslowakei. Nachdem die Westmächte Prag gedrängt hatten, das Sudetenland an Deutschland abzugeben, verlangte die polnische Regierung das Olsa-Gebiet. Prag hat es abgetreten. Natürlich war das sehr unvernünftig von Polen, denn gute Nachbarschaft ist wichtiger als 900 Quadratkilometer Land. Die Sache hielt trotzdem polnische und tschechoslowakische Exilregierungen nicht davon ab, Pläne für eine Konföderation nach Kriegsende zu schmieden. Putin will die Aggression der Sowjetunion gegen Polen herunterspielen. Er will zeigen: Die Polen machten doch eigentlich das Gleiche. Aber es war nicht das Gleiche. Es war einfach ein unkluger Schritt.
Sind Hitler-Deutschland und die stalinistische Sowjetunion gleichermaßen schuld am Beginn des Zweiten Weltkriegs, wie es das polnische Parlament im Januar einstimmig beschloss?
Ja, wenn es um den Aspekt der Zerschlagung des polnischen Staates geht. Nein, wenn es das Anzetteln des Krieges geht: Da trägt Deutschland die Hauptschuld, die Sowjetunion "nur" eine Mitschuld, weil Stalin kein Interesse hatte, den Frieden zu erhalten. Der Sejm-Beschluss ist da unpräzise.
Warum kritisiert Polen meist nur das Verhalten der Sowjetunion 1939, jedoch selten die Politik der Westmächte, die 1939 auch Polen fallen ließen?
Am 12.9.1939 beschlossen die Westmächte, sie könnten Polen jetzt nicht helfen, sondern erst im Frühjahr 1940. Man kann den damaligen Politikern der Westmächte fehlende politisch-militärische Vorstellungskraft ankreiden. Aber es ist nicht vergleichbar mit dem, was die Sowjetunion tat. Diese hat das Geheimprotokoll mit Hitler unterschrieben und durch die Offensive in Ostpolen jegliche Verteidigungspläne des polnischen Militärs, das auf die Offensive der Westmächte warten wollte, sabotiert.
Unter der PiS-Regierung seit 2015 betreibt auch Polen eine stärker patriotische Geschichtspolitik.
Es wird sicher mehr über Geschichte in der Öffentlichkeit gesprochen, mehr Geld fließt in historische Institutionen. Aber inhaltlich sehe ich nur eine wirkliche Veränderung seit 2015: die antikommunistische Bewegung nach 1945 wird mehr verehrt, die sogenannten "verstoßenen Soldaten", unter denen auch Mörder und Verbrecher waren.
In der erwähnten Resolution des EU-Parlaments zum 80. Jahrestag des Weltkriegsbeginns werden Nazi-Deutschland und die Sowjetunion als zwei gleich schlimme Totalitarismen behandelt. In Deutschland haben mit dieser Gleichsetzung viele ein Problem, weil es die NS-Verbrechen zu relativieren scheint.
Ich finde den Vergleich berechtigt. In Westeuropa herrschte die Überzeugung, der Nationalismus ist das größte Übel der Menschheit. Über den Stalinismus ist das Wissen geringer, unter Linken wurde es sogar verdrängt. Die EU-Osterweiterung trug schließlich dazu bei, dass die Erinnerung der Mittel- und Osteuropäer eine größere Rolle zu spielen beginnt. Das führt zu der unvermeidbaren Frage: Was war schlimmer – Gulag oder KZ?  Ja, der Holocaust war einmalig in seiner Grausamkeit. Die Sowjets hatten keine Rassenmotive, sie wollten Klassen und Eliten vernichten. Das bedeutete jedoch die Vernichtung von Nationen, von Kulturen. Deswegen ist auch die Sowjetunion für Völkermorde verantwortlich. Die betrafen viele Volksgruppen, vor allem die Ukrainer, ebenso die Polen und Deutschen. Allein 1937/38 wurden mehr als 100 000 Polen ermordet.
Sie arbeiten im "Zentrum für polnisch-russischen Dialog und Verständigung" in Warschau. Wie sehen derzeit Ihre Kontakte nach Russland aus?
Offiziell arbeiten wir mit Historikern von "Memorial" zusammen, einer russischen Menschenrechtsorganisation, die sich mit den stalinistischen Verbrechen befasst. Oder mit freien Historikern. Wir vergeben Stipendien. Meine persönlichen Kontakte zu Kollegen in Russland sind sehr eng und wir sprechen offen. Unter angesehenen Historikern kenne ich nur einen, Alexej Miller, der Putins Geschichtspolitik indirekt rechtfertigt. Die anderen protestieren entweder oder schweigen. Selber wird mir seit 2018 die Einreise nach Russland verwehrt. Wahrscheinlich auch, weil ich in den Medien historisch falsche Darstellungen des Botschafters in Polen kritisiert habe.

Zur Person

Der Historiker und Politologe Łukasz Adamski forscht zur Geschichte und Gegenwart Mittel- und Osteuropas und veröffentlichte zahlreiche Bücher und Zeitungsartikel. Seit 2016 ist er Vize-Direktor des vom polnischen Staat getragenen Zentrums für polnisch-russischen Dialog in Warschau. Es wurde 2011 gegründet in einer gemeinsamen Initiative Polens und Russlands. In Moskau gründete die russische Regierung als Äquivalent eine gleichnamige Stiftung. Die gemeinsamen Aktivitäten beschränken sich derzeit auf Sportveranstaltungen. nww