Sie fliegen bis zu mehrere Tausend Stundenkilometer schnell und extrem tief – in Höhen von ein paar Dutzend Metern: Mittelstreckenraketen. Von Russland aus gestartet, könnten sie Mitteleuropa binnen weniger Minuten erreichen, oder umgekehrt. Im Kalten Krieg waren solche beängstigenden Szenarien durchaus real. Deutschlandweit regte sich damals millionenfacher, wenn auch vergeblicher Protest gegen die Stationierung von Pershings und Cruise Missiles. Bis der sowjetische Staatschef Michail Gorbatschow und US-Präsident Ronald Reagan im Jahr 1987 den INF-Vertrag unterzeichneten. Mehr als 30 Jahre lang war danach die Gefahr durch bodengestützte atomar bestückbare Marschflugkörper gebannt. Das Abkommen verbot die Entwicklung dieser Raketen.
Das ist nun vorbei; mit der Kündigung des Rüstungsvertrages durch die USA verliert die Vereinbarung im August ihre Gültigkeit. Nun können beide Seiten wieder Raketen mit Reichweiten zwischen 500 und 5500 Kilometern entwickeln und produzieren.
Das Schwarze-Peter-Spiel ist längst im Gange. Washington ist überzeugt, dass Russland vertragsbrüchig geworden ist. Mit der Entwicklung der Raketen namens Iskander 9M729 habe Russland Mittelstreckenwaffen entwickelt, die mehrere Tausend Kilometer weit fliegen könnten, so der Vorwurf der US-amerikanischen Seite, den sie bereits seit mehr als fünf Jahren vorträgt. „Mehr als 30 Mal haben wir unsere Bedenken vorgebracht“, erklärte US-Außenminister Mike Pompeo am Freitag in Washington.
Moskau beteuert, die neue Rakete der Iskander-Serie – Nato-Code: SSC-8 – habe nur eine Reichweite von 480 Kilometern und falle damit nicht unter den Vertrag. Bei einer am 23. Januar angesetzten Präsentation zeigte die Regierung den anwesenden Militärattachés und Journalisten in Kubinka nahe Moskau nur den Container, in dem sich angeblich die Rakete verbarg. Sie blieb allerdings den Beweis schuldig, dass die Rakete wirklich 53 Zentimeter länger als ihr Vorgänger ist, der Sprengkopf größer, die Größe ihres Tanks unverändert und damit ihre Reichweite kürzer. Vertreter von USA, Großbritannien, Frankreich, Deutschland, EU und Nato waren der Veranstaltung gleich ganz ferngeblieben.
Der stellvertretende Außenminister Sergej Ryabkow versicherte bei der Veranstaltung, dass Russland zum INF-Vertrag stehe. Aber „kürzliche Ereignisse zeigen deutlich, dass gewisse Kräfte in den Vereinigten Staaten nicht daran interessiert sind, uns die Möglichkeit zu geben, ihre fehlerhaften oder gefälschten Informationen zu widerlegen“. Im Gegenzug wirft Russland den Amerikanern vor, das Abkommen zu unterlaufen und führt als Beweis das Raketenabwehrsystem MK-41 an, das in Rumänien stationiert ist und von dem die russische Seite annimmt, dass es zu Angriffszwecken genutzt werden kann.
Sich eine unabhängige Meinung zu bilden, ist schwer. „Die US-Behörden haben jahrelang wenig öffentliche Informationen preisgegeben, um ihre Vorwürfe zu untermauern“, kritisiert der amerikanische Politologe Steven Pifer von der renommierten amerikanischen Brookings Institution. Es sei höchste Zeit, dass sie Details preisgäben, forderte er.
Allerdings deckt der INF-Vertrag beileibe nicht sämtliche Mittelstreckenraketen ab. Geschosse, die von Schiffen, U-Booten oder Flugzeugen abgefeuert werden, sind nämlich von den Vereinbarungen gar nicht erfasst. Genau auf deren Entwicklung haben sich die USA und Russland seit 1987 verlegt.
Durch die neuen globalen politischen Entwicklungen der vergangenen Jahre haben bilaterale Rüstungsvereinbarungen ohnehin an Wirkungsmacht verloren. Den beiden größten Atommächten sind Konkurrenten entstanden, die eine teils aggressive Außenpolitik verfolgen. Allein China besitzt nach Schätzung von Experten rund 2000 Raketen, die der INF-Reichweite entsprechen. Es hat zwar bei Weitem nicht so viele Sprengköpfe, um sie alle atomar zu bestücken. Und sie würden auch amerikanisches Festland nicht erreichen. Dennoch entfalten sie ein Drohpotenzial in der pazifischen Region, etwa gegenüber den US-Verbündeten Japan oder Südkorea. Auch der Iran, Nordkorea, Indien, Pakistan und Israel sind mit solchen Raketen bewaffnet. Kein Wunder, dass Pompeo in Washington darauf hinwies, dass den USA ein militärischer Nachteil entstanden sei.
Sechs Monate sind nun, nach der Kündigung, noch Zeit, das Vertragswerk zu retten. Wie das geschehen soll, ist unklar. Ein Herangehen wie 1979 mit dem Nato-Doppelbeschluss sieht Deutschlands Außenminister Heiko Maas (SPD) kritisch: „Europa ist nicht mehr geteilt wie in Zeiten des Eisernen Vorhangs und deshalb sind alle Antworten aus dieser Zeit völlig ungeeignet, die Herausforderungen, mit denen wir es jetzt zu tun haben, zu beantworten“, sagte er am Freitag. Unions-Vizefraktionschef Johann Wadephul (CDU) mahnte dagegen, man dürfe eine atomare Aufrüstung in Westeuropa nicht ausschließen. „Es darf also keinen deutschen Sonderweg geben.“