Gerade für die Präsidentin des Gesamtverbandes Textil + Mode ist das eigentlich kein Wunder. Für jedes neue Stück versucht sie, eines wegzugeben, aber "das schaffe ich nicht immer, gerade bei Schuhen". Beim Interview zur Lage der Branche ist sie gerade auf dem Sprung zur Fashion Week, die in der Hauptstadt die Trends für die nächste Frühjahrs- und Sommersaison präsentierte.
Frau Neumann, Gerry Weber ist in Insolvenz, andere prominente Modefirmen fahren einen harten Sanierungskurs. Ist die deutsche Modeindustrie tot?
Ingeborg Neumann: Nein, überhaupt nicht. Das konnten Sie diese Woche wieder auf der Fashion Week erleben. Unsere deutschen Marken haben weltweit einen guten Ruf und konnten bereits 2018 die schwächere Inlandsnachfrage mit guten Exportzahlen ausgleichen. In den ersten vier Monaten dieses Jahres haben die Umsätze der deutschen Textilindustrie sogar wieder um 2,5 Prozent und die Zahl der Beschäftigten um 1,5 Prozent zugelegt.
Ist Deutschland ein guter Standort für Mode?
Auf alle Fälle. Uns fehlt manchmal aber vielleicht die Leichtigkeit wie in Italien oder Frankreich. Dafür sind wir stark, wenn es um Design und Qualität geht. Aus Deutschland kommen die meisten textilen Innovationen. Wir sind eben das Land der Ingenieure.
Ist es ein Problem, dass Deutschland kein Modezentrum hat wie Paris oder Mailand?
Daran liegt es nicht. Es geht eher um unseren Umgang mit und die Wertschätzung von Mode. Hier haben die größten Konkurrenten der Markenhersteller, die globalen Billigketten, viel Wertschätzung für Textilien zerstört.
Wichtige Themen sind Umweltschutz und Nachhaltigkeit. Welchen Einfluss hat das auf die Modeindustrie? Wird mehr Qualität gekauft?
An den Zahlen ist nicht abzulesen, dass die Verbraucher bereit sind, für nachhaltige Bekleidung mehr Geld auszugeben. Es geht immer noch viel allein über den Preis.
Ist nicht Nachhaltigkeit ein großer Trend?
Ja, und das bestätigt unseren Weg auch, nach weltweit besten Umwelt- und Sozialstandards zu produzieren. Ich bin fest überzeugt, dass Nachhaltigkeit in der Mode nicht nur ein Trend ist, sondern unsere Branche in den kommenden Jahrzehnten umwälzen wird. Der Schlüssel ist die Digitalisierung, die die Textilindustrie langfristig so stark verändern wird wie zuletzt vielleicht die Erfindung des Webstuhls.
Innovative Textilien aus Deutschland sind für Ihre Branche längst viel wichtiger geworden als Mode. Was passiert da?
Wir haben viele Hidden Champions, die komplett in Deutschland produzieren. Sie finden Textil aus Deutschland im Wohnbereich, in Autos, in Flugzeugen, und das nicht nur als Sitze oder Teppiche, sondern auch als tragende Leichtbauteile. Weltweit kommen inzwischen Stadion-Dächer oder Fassaden aus deutscher Textilproduktion. Die Architektur steht erst am Anfang, den textilen Leichtbau mit all seinen Möglichkeiten als Alternative zu Beton einzusetzen.
Die nächste Stufe des Strukturwandels könnte das 3D-Drucken sein. Bringt das eine neue Revolution?
Ich würde nicht gleich von einer Revolution reden. Aber wir erleben einen spannenden Umbruch. In jedem Fall können wir damit in Zukunft die Nachfrage nach Individualisierung decken. Erste Fabriken, die bei uns Sportschuhe auf den jeweiligen Fuß des Kunden herstellen, zeigen, wohin die Reise geht. Wir können ganz nah am Kunden produzieren, ohne lange Lieferwege, ohne Zeitverzug, ohne Lagerhaltung. In der Breite sehe ich hier aber noch keine Rückverlagerung der Produktion nach Europa. Das wird nicht so schnell passieren.
Ihre Branche ist stark mittelständisch geprägt. Sie werfen Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier vor, zu wenig für sie zu tun. Woran machen Sie das fest?
In Sonntagsreden wird der Mittelstand immer als Rückgrat unserer Wirtschaft gelobt, aber konkret passiert nichts. Zum Beispiel bei den Strompreisen. Allein die EEG-Umlage für Strom aus erneuerbaren Energien ist für uns so hoch wie der gesamte Strompreis in den USA. In unserer Branche ist jedoch fast niemand von der EEG-Umlage befreit, obwohl unsere Produktion energieintensiv ist. Das schlägt sich natürlich massiv auf unsere Wettbewerbsfähigkeit nieder und ist für unsere Unternehmen existenzgefährdend.
Nimmt sich Altmaier das zu Herzen?
Ich will hier nicht die ganze Verantwortung beim Wirtschaftsminister abladen. Die Antworten muss die Bundesregierung als Ganzes geben. Vorschläge aus dem Wirtschaftsministerium werden vom SPD-Finanzminister blockiert. Hier wird nicht mehr zusammengearbeitet, sondern Klientelpolitik betrieben, statt Steuern und Energiepreise zu senken oder Unternehmen von viel unsinniger Bürokratie zu entlasten.
Wie groß sind die Probleme, qualifizierte Arbeitskräfte zu finden?
Wir spüren den demografischen Wandel deutlich. Im Schnitt bilden wir 2300 junge Leute pro Jahr aus. Das ist zu wenig, um den Abgang aufzufangen. Wir brauchen qualifizierte Kräfte. Deshalb sind wir aktiv geworden und haben ein Pilotprojekt mit der Bundesagentur für Arbeit gestartet. Wir wollen ausländische Fachkräfte aus Europa nach Deutschland anwerben.
Welche Länder haben Sie im Auge?
Wir sind da offen. Es gibt bereits erste Interessenten aus Italien, Portugal, Finnland und Bulgarien. Was mögliche Sprachbarrieren angeht, so haben wir bereits positive Erfahrungen mit Flüchtlingen gesammelt. In meinen Unternehmen in Sachsen zum Beispiel gab es eine extrem große Solidarität unter den Beschäftigten. Mit unseren Deutschkursen haben wir sehr gute Erfahrungen gemacht. Auszubildenden helfen wir bei der Vorbereitung auf die Prüfungen. Dazu sind wir auch mit den Industrie- und Handelskammern im Gespräch.
Chefin von 600 Mitarbeitern an vier Standorten
Die deutsche Textil- und Modeindustrieist stark mittelständisch geprägt. Die rund 1400 Unternehmen haben im Inland 135 000 Beschäftigte und setzen etwa 32 Milliarden Euro um. Bekleidung steuert dazu nur noch 40 Prozent bei. Die Produktion technischer Textilien ist deutlich wichtiger geworden, und viele innovative Produkte werden auch noch im Inland hergestellt.
Präsidentin des Verbands ist seit sechs Jahren Ingeborg Neumann (61). Die frühere Wirtschaftsprüferin übernahm vor über 20 Jahren vier Textilhersteller in Sachsen und gründete als Dach die Peppermint Holding GmbH in Berlin. Sie hat inzwischen drei weitere Standorte in Osteuropa. Mit über 600 Mitarbeitern setzt sie rund 90 Millionen Euro mit hochwertigen Garnen und Textilien um. Neumann ist auch Vizepräsidentin des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI). dik