Die Wähler sollen Europa wichtig nehmen und nun nimmt Großbritannien an der Wahl teil.Macht das die Europawahl nicht vollkommen lächerlich?
Özlem Alev Demirel:
Natürlich ist das merkwürdig, wenn die Briten jetzt mitwählen und dann demnächst aus der EU austreten. Aber schlimmer wäre der ungeordnete Brexit. Und wenn man sich die Zeit nehmen will, einen geordneten EU-Austritt Großbritanniens im Sinne der Bürger hier und dortzu organisieren, dann muss man es ebenhinnehmen.
Martin Schirdewan:
Ich glaube auch, dass eine Beteiligung an der Europawahl noch einmal eine Abstimmung über den Brexit sein könnte.
Sie meinen ernsthaft, dass die Europawahl in Großbritannien eine zweite Volksabstimmung wäre?
Schirdewan:
Ja. Das kann durchaus passieren.
Sie sind die Spitzenkandidaten der Linken für die Europawahl und – mit Verlaub – bislang kennt Sie niemand. Empfinden Sie das als Manko?
Demirel:
Im Gegenteil. Es würde auch anderen Parteien gut zu Gesicht stehen, mit neuen Leuten anzutreten. Früher hieß es in der Politik: "Hast Du einen Opa, dann schick ihn nach Europa." Damit muss Schluss sein. Und es ist doch auch für die Journalisten schön, neue Leute kennenzulernen.
Das stimmt.
Schirdewan:
Außerdem werden wir ja bekannter. Mit jedem Interview.
Stimmt bestimmt auch. Aber was ist denn das eigentliche Thema der Linken? Warum soll man Sie in das Europäische Parlament wählen?
Demirel:
Weil wir am konsequentesten für soziale Gerechtigkeit und für Abrüstung eintreten. Die EU will aber aufrüsten. Und wir kämpfen vor allem für die Freiheit der Menschen.
Oh, das müssen Sie erklären.
Demirel:
Es geht nicht um die Freiheit der Konzerne, sondern zum Beispiel um die Bewegungsfreiheit für alle. Nur wenn wir einen europäischen Mindestlohn und andere soziale Standards durchsetzen, kann auch jeder von seinem Recht Gebrauch machen, sich frei in der EU zu bewegen. 112 Millionen Menschen in der EU sind aber arm.
Die soziale Frage ist wieder in den Mittelpunkt der politischen Debatte gerückt. Warum profitieren die Linken davon so wenig. Ihre Umfragewerte sind wie festgenagelt.
Demirel:
Umfragen sind noch keine Wahlen.
Das sagen alle.
Aber so ist es ja auch. Zunächst einmal freue ich mich über jede soziale oder sozial-ökologische Bewegung. Ob es die Menschen sind, die gegen Mietwucher kämpfen oder die "Fridays for Future"-Bewegung. Ich bin sicher, die Tatsache, dass die Leute jetzt auf die Straße gehen, wird sich auch auf unsere Wahlergebnisse positiv auswirken. Die Menschen wissen ja, dass wir schon lange an ihrer Seite für ihre Ziele kämpfen.
Was wäre denn ein gutes Ergebnis bei der Europawahl?
Wir wollen auf jeden Fall stärker werden als bei der letzten Wahl
Mehr als 7.4 Prozent.
Genau. Wir wollen mehr als sieben Abgeordnete ins Europäische Parlament bringen.
Schirdewan
Ich möchte noch etwas zu der sozialen Frage sagen. Seit dem Amtsantritt von Angela Merkel hat sich die Zahl der armen Kinder hierzulande verdoppelt. Und ebenso die Zahl der Millionäre in Deutschland. Endlich werden diese Probleme auch richtig wahrgenommen. Die Linken haben immer gegen die sozialen Ungerechtigkeiten gekämpft. Das haben sich die Menschen gemerkt.
Die Linken kritisieren die EU massiv. Bei manchen hat man den Eindruck, sie würden die EU
am liebsten abschaffen.Was stört Sie so?
Schirdewan
Wir nehmen uns die Freiheit, dort Kritik zu äußern, wo sie berechtigt ist. In Brüssel klopfen 27000 Lobbyisten an den Parlamentsbürotüren an. Da muss sich etwas ändern. Und wir haben alternative politische Angebote für eine neue, gelingende europäische Einigung. Hin zueiner sozialen Union, zu einer Union der Steuergerechtigkeit, zu einer ökologischen EU,ohne Aufrüstung und mit Seenotrettung von Flüchtlingen.
Demirel
Es werden jährlich sieben Milliarden Euro für Aufrüstung in der EU ausgegeben. Das ist die Hälfte dessen, dass man für die Bekämpfung der akuten Hungersnot in der Welt bräuchte. Und wenn der Binnenmarkt ohne jede soziale Regelung für Lohndumping missbraucht wird, müssen wir das ändern. Sonst wenden sich noch mehr Menschen von Europa ab.
Die Skepsis gegenüber der EU ist in Ostdeutschland ist noch größer als im Westen. Haben Sie dafür Verständnis?
Schirdewan
Natürlich haben die Ostdeutschen zwiespältige Erfahrungen gemacht. Einerseits ist die ostdeutsche Wirtschaft ohne Schutz in die EU gekommen. Andererseits hat Ostdeutschland sehr von EU-Hilfen profitiert. Allerdings droht nun das Problem, dass die Förderung wahrscheinlich erheblich reduziert wird. Aber ich will auch sagen: Die Skepsis gegenüber Europa hat in erster Linie mit unsozialer, neoliberaler Politik zu tun. Und zwar überall in Europa. Nicht zuletzt in Großbritannien.
Demirel
Auch die Steuergerechtigkeit bewegt die Menschen sehr. Die fragen, warum muss ich als Angestellter, als Pflegerin oder als Bäckermeister so hohe Steuern zahlen und die internationalen Großkonzerne stehlen sich aus der Verantwortung. Da werden die Leute doch zu Recht wütend. Oder es werden die Fonds für die strukturschwachen Gebiete zusammengestrichen und auf der anderen Seite werden Milliarden für Killerdrohnen ausgegeben oder 6,5 Milliarden Euro um Brücken und Straßen panzerfest zu machen. Das ist doch irre.
Manche haben den Eindruck, die EU will mit Umweltauflagen die deutsche Autoindustrie
kaputtmachen.
Demirel
Ich sehe vor allem, dass wieder die Konzerne gepampert werden. Die haben in Sachen Diesel betrogen und die Autofahrer werden zur Kasse gebeten. Die Umweltauflagen sind völlig in Ordnung. Aber die einzuhalten, ist Aufgabe der Industrie. Sie haben betrogen, sie müssten zahlen!
Die linke Fraktion im EU-Parlament ist relativ klein.Die Wahrscheinlichkeit, dass rechtspopulistische oder rechtsextreme Kräfte mehr Einfluss gewinnen, ist dagegen groß. Wäre es da nicht an der Zeit eine Art Einheitsfront der linken, grünen, sozialistischen und sozialdemokratischen Kräfte zu bilden?
Schirdewan
So schwach sind wir gar nicht. Wir sind so stark wie die Grünen und stärker als jede der drei sehr rechten Fraktionen. Aber ja, die Gefahr einer Rechtsverschiebung ist da. AFD Chef Meuthen und der faschistische italienische Innenminister Salvini wollen zusammen mit anderen eine neue Rechtsaußen-Fraktion bilden. Aber so oder so, wir stellen uns diesen Kräften schon jetzt in den Weg. Wenn sie die Unabhängigkeit der Justiz in Frage stellen. Oder die Öffentlich-Rechtlichen Medien angreifen. Oder gegen Flüchtlinge hetzen. Oder Faschismus und Nazizeit glorifizieren. Das Problem ist, dass die EVP-Fraktion, in der auch CDU und CSU sind, extreme Rechte in ihren Reihen duldet und keine klare Kante zeigt.
Spielt da auch Machtkalkül eine Rolle?
Klar. CSU-Mann Manfred Weber will Kommissionspräsident werden und braucht die Stimmen von der Rechtsaußen-Partei von Viktor Orbán, FIDESZ, und auch die der rechten Forza Italia. Und in einigen Länder regieren ja die Konservativen mit den Rechtsextremen zusammen. Siehe Österreich.
Demirel
Gemeinsam gegen Rechtsextreme zu kämpfen, das machen die linken Parteien. Und wir haben auch Gemeinsamkeiten mit Grünen und Sozialdemokraten in manchen Fragen. Aber wir haben eben auch große Unterschiede. Zum Beispiel wenn es um die Außenpolitik und vor allem wenn es um die Aufrüstung geht.
Auf Ihrem Bonner Parteitag wurde die Idee von der Europäischen Republik verworfen. Allerdings knapp. Braucht man nicht eine solche Vision?
Schirdewan
Wir haben doch eine Vision. Wir wollen, dass jede Europäerin und jeder Europäer ein gutes Leben führen kann. Ohne Existenzängste. Mit Perspektiven für alle. Und wir brauchen für Klimapolitik, Kampf gegen Rechts und für die soziale Frage europäische Lösungen. Und ob das, was da am Ende herauskommt, Europäische Republik heißt oder irgendwie anders, das ist mir einigermaßen schnuppe.
Herr Schirdewan, Sie haben einen berühmten Großvater. Nervt es Sie, immer wieder auf ihn angesprochen zu werden?
Nein. Das ist Teil meiner Familiengeschichte. Und ich habe von meinem Großvater vor allem das klare, antifaschistische Bekenntnis übernommen. Aber ich bin eine eigenständige politische Persönlichkeit und ich denke, so werde ich auch wahrgenommen.
Frau Demirel, Sie kommen aus einer kurdisch-alevitischen Familie. Ihr Vater wurde als Sozialist verfolgt. 1989 ging Ihre Familie nach Deutschland. Als politische Flüchtlinge?
Allerdings. Mein Vater war mehrfach in der Türkei wegen seiner politischen Gesinnung im Gefängnis und wurde gefoltert. Ich hatte auch bis zu meinem 17. Lebensjahr den blauen Pass. (Reisepass für Flüchtlinge nach der Genfer Konvention als Passersatz). Den hatte ich, bis ich die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen habe.
Als Sie 1989 nach Deutschland kamen, waren Ihre Großeltern schon hier. Welches Deutschlandbild haben sie Ihnen vermittelt?
Na ja, ich habe selbst gesehen, wie es der ersten türkischen Einwanderergeneration erging. Mein Großvater hat geschuftet, bis er mit Ende 50 den ersten Herzinfarkt bekam. Meine Oma hat geputzt. Ich habe mein erstes Geld ebenfalls mit dieser harten Arbeit verdient. Und die entsprechenden Diskriminierungserfahrungen gemacht. Die Türken waren als billige Arbeitskräfte geholt worden und sollten eigentlich gar nicht bleiben. Von Integration hat damals niemand geredet. Mein Großvater war Analphabet und meine Großmutter hat regelrecht darauf bestanden, dass ihre Enkel lernen und studieren. Aber dafür hat sie die Klos anderer Leute geputzt. Ich bin stolz auf meine Großeltern.
Sie haben sich früh in der DIDF, der Föderation türkischer Arbeitervereine engagiert und waren von 2012 bis 2014 dort auch Bundesvorsitzende. Das ist eine Migrantenorganisation. Brauchen wir so etwas noch?
Ja. Die DIDF hat sich immer in einer Brückenfunktion gesehen. Einmal, weil die türkischen Regierungen -und unter Erdogan besonders -den Türken im Ausland eingetrichtert haben, dass ihre eigentliche Heimat die Türkei ist. Und auf der anderen Seite war da die deutsche Politik, die die Besonderheiten einer Einwanderungsgesellschaft nicht akzeptieren wollte. Die DIDF hat ein Emblem, von dem ich sage, da sind Hans und Mehmed drauf. Und die beiden haben viel mehr miteinander gemeinsam, als sie jeweils mit deutschen oder türkischen Konzernbossen gemeinsam haben.
Der Trend in großen Teilen der türkischen Community geht zu mehr türkischem Nationalismus. Zu mehr Erdogan. Zu mehr Abgrenzung.
Das stimmt. Trotzdem werde ich immer sehr misstrauisch, wenn auf die Türken herabgesehen wird, die Erdogan wählen. Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich habe mit Erdogan nun wirklich nichts am Hut. Aber wenn die deutsche Regierung immer und immer wieder mit Erdogan kuschelt, weil man ihn braucht, um Flüchtling fernzuhalten, dann macht mich das wütend.Und es war Angela Merkel, die sich mit Erdogan allen Ernstes auf einen goldenen Thron gesetzt und ihm damit unschätzbare Wahlkampfhilfe geleistet hat.
Herr Schirdewan, Sie sind schon EU-Parlamentarier. Frau Demirel wird es mit Sicherheit werden. Weisen Sie sie schon mal ein?
Nein. Aber ich berichte natürlich, was da los ist. Die Sitzungsperiode ist ja noch nicht vorüber. Demnächst geht es um die Besteuerung der Banken. Dazu haben wir Linken einiges zu sagen. Und davon erzähle ich.
Und Sie Frau Demirel, was wollen Sie anders machen als "die da in Brüssel" bzw. in Strasbourg?
Ich finde, es wissen immer noch zu wenig, was im EU-Parlament gemacht wird. Dort ist man nämlich erstens keineswegs faul, sondern da ist das Programm doppelt so straff wie im Bundestag. Und zweitens ist es, bei allen Einschränkungen, höchst wichtig, was da im Parlament beschlossen wird. Na und dann will ich als Gewerkschafterin wie eine Löwin für einen europäischen Mindestlohn kämpfen.
Werden Sie im Euroapawahlkampf von der gesamten Parteiprominenz unterstützt. Also auch von Sahra Wagenknecht?
Schirdewan:
Es sind alle dabei. Katja Kipping, Bernd Riexinger, Gregor Gysi, und natürlich auch Dietmar Bartsch und Sahra Wagenknecht. Das wird großartig.

Zur Person

Özlem Alev Demirel, 1984 in Malatya geboren (Türkei). Sie ist Politologin mit Magisterabschluss, ist verheiratet und hat zwei Kinder. 1989 Flucht mit der Familie wegen der politischen Verfolgung ihres Vaters. Demirel lebt in Düsseldorf.

Martin Schirdewan, 1975 in Berlin geboren. Er ist Vater eines Kindes. Schirdewan studierte an der FU Berlin und promovierte 2007 als Politikwissenschaftler. Er ist der Enkel von Karl Schirdewan (1907-1998), ein kommunistischer Antifaschist und Gegner Walter Ulbrichts in der DDR. bo