"Mein Vater", entgegnet sie, "braucht keinen Betreuer. Wir kümmern uns um ihn und meine Mutter." Doch eine Stunde später kommt die Nachricht Schwarz auf Weiß als Fax. Ein vom Gericht eingesetzter Betreuer bestimmt ab sofort über das Leben ihres fast 90-jährigen Vaters, der an Diabetes leidet und sich selbst nicht mehr versorgen kann. Bald darauf wird der Mann auch der Betreuer ihrer dementen Mutter.
"Meine Eltern hatten keine Vorsorgevollmacht und keine Betreuungsverfügung ausgefüllt", sagt Lange. "Sie hatten nur über ihr Begräbnis verfügt – und damit schien für sie alles geregelt."
Fünfeinhalb Jahre später sitzt die 66-Jährige im Wintergarten ihres Hauses in Kleinmachnow, am südwestlichen Stadtrand von Berlin. Der Inhalt dicker Aktenordner zeugt von ihrem jahrelangen verzweifelten Kampf – mit Betreuern, dem Gericht und den Pflegern des Heimes, in dem die Eltern, die inzwischen beide gestorben sind, gar nicht leben wollten.
"Diese Geschichte ist leider kein Einzelfall", bestätigt Marion-Irene Höne vom Fachdienst für Soziales in Kleinmachnow. Wie eine "Wanderpredigerin" versuche sie deshalb schon seit Jahren, die Menschen dazu zu bringen, rechtzeitig vorzusorgen. "Viele denken, dass im Ernstfall der Ehepartner oder die Kinder automatisch die rechtliche Betreuung übernehmen können, aber das ist ein Irrglaube", sagt die 55-Jährige. Es sei wichtig, das Thema in guten Zeiten, wenn alle klar bei Verstand sind, in der Familie zu besprechen. "Auch junge Menschen können durch einen Unfall zum Koma-Patienten werden." Liege keine Betreuungsverfügung vor, seien Klinikärzte sogar verpflichtet, einen externen Betreuer bei Gericht zu beantragen.
Bei Heidrun Lange war es der eigene Bruder, der das nach einem Streit tat. "Er wusste wohl nicht, was er damit anrichtete." Jahrelang hatten sich Heidrun Lange, ihr Mann und ihre Tochter um die Eltern gekümmert, die früher Lehrer für Deutsch, Sport und Geschichte waren. "In meiner Kindheit hatte ich bei meiner Mutter Flöten- und Tanzunterricht. Es gab Kinobesuche und Spielabende und zu jedem Fest einen selbstgebackenen Apfelkuchen."
An ihrem Lebensabend habe ihre Mutter nicht einmal ein paar Münzen in der Handtasche gehabt, um den Enkeln ein Eis zu spendieren, erinnert sich Heidrun Lange. Der Betreuer, der über die Finanzen bestimmt, gibt den Eltern kein Taschengeld. Auch die Ausweise müssen beide im Heim abgeben. Nach einer Panikattacke der dementen Mutter, die seit Kindheitstagen an einem Kriegstrauma leidet, das sie nachts manchmal schreiend hochschrecken lässt, werden die Eltern voneinander getrennt. Nach 60 Jahren Ehe. "Es hieß, mein Vater habe seine Frau geschlagen", berichtet Heidrun Lange. "Sie wurde ein Stockwerk höher untergebracht. Die beiden durften sich nicht mehr sehen."
Der Vater wird immer lethargischer. Statt wie sonst Zeitung zu lesen oder sich TV-Dokumentationen anzuschauen, liegt er nur noch reglos im Bett. "Wo ist Anna?", fragt er immer wieder – und Heidrun Lange kann nichts tun. "Er dachte, seine Frau habe ihn allein zurückgelassen", erinnert sie sich. "Hat sie einen anderen?" fragt er die Tochter.
"Auch meine Mutter saß einen Stock höher mit hängendem Kopf auf dem Flur und weinte." Statt mit ihrem Mann teilt sie sich mit einer fremden Frau ein Zimmer. Heidrun Lange hat ein Foto, auf dem ihre Mutter vor der Tafel zu sehen ist, auf der üblicherweise die Angebote für die Heimbewohner aufgelistet werden. Irgendjemand hat in die leeren Kästchen Blumen gemalt. "Wegen Personalmangels gab es kaum Angebote", berichtet Lange. Früher hat sie selbst Gymnastikstunden und Physiotherapie für ihre Eltern organisiert. Doch das habe der Betreuer abgelehnt. Im Heim gebe es ja genügend Angebote: Auch auf die Frage, welche Medikamente ihre Eltern nehmen, habe sie keine Auskunft bekommen.
"Oft werden die Angehörigen isoliert"
"Der Betreuer entscheidet praktisch über das ganze Leben – und oft werden die Angehörigen isoliert", bestätigt Volker Thieler. Den Leiter des Forschungsinstituts "Betreuungsrecht" in München erreichen fast täglich Hilferufe von Angehörigen. Derzeit werden 1,3 Millionen Menschen in Deutschland betreut, 55 Prozent von persönlichen Vertrauten. Die Übrigen haben externe Betreuer. "Durch den demografischen Wandel ist ein ganz eigener Berufszweig entstanden", sagt Thieler. Dabei müssten die Betreuer über keinerlei Ausbildung für diese Tätigkeit verfügen und würden pauschal pro Fall bezahlt: "Es ist also egal, wie oft jemand seinen Klienten besucht oder ob er einfach alles vom Bürotisch aus regelt." Ausgesucht werden die Betreuer von der regionalen Betreuungsbehörde – und nicht wenige von ihnen machen ihre Arbeit auch gut. Aber eben längst nicht alle.
In einem dicken Buch hat Thieler, der auch Rechtsanwalt ist, haarsträubende Fälle gesammelt: Da ist die Betreuerin, die ihre Kaufsucht mit dem Geld ihrer Klienten finanzierte. Ein anderer veräußerte ein Grundstück gegen den Willen der Betreuten. "In einem Fall wurde ein Sohn wegen Entführung belangt, weil er seine Mutter aus dem Heim ins Café ausgeführt hatte", berichtet Thieler. Er stört sich an dem Wort "Betreuung", findet es irreführend. "Die meisten Menschen denken dabei an Leute, die mit Senioren spazieren gehen. Doch der rechtliche Betreuer hat die Gewalt über Bankkonten, öffnet die Post und kann entscheiden, ob jemand ins Heim eingewiesen oder sein Bein amputiert wird", sagt Thieler. Dabei habe er noch nicht einmal die Pflicht, den Angehörigen Auskunft zu geben.
Geregelte Ausbildung gefordert
Heidrun Lange versucht oft wochenlang vergeblich, den Betreuer ihrer Eltern über Telefon oder Fax zu erreichen. Als sie endlich ein Doppelzimmer in einer anderen Pflegeeinrichtung mit eigener Therapiepraxis für Demenzpatienten bekommt, lehnt der Betreuer den Umzug ab. Sie fleht den Heimleiter an, ihre Eltern doch wenigsten miteinander frühstücken zu lassen. "Es war so unmenschlich, dass sie in einem Haus lebten, aber nicht wussten, wie es dem anderen geht. Nach 60 gemeinsamen Jahren konnten sie sich nicht einmal einen Gutenachtkuss geben."
"Ein rechtlicher Betreuer hat in erster Linie die Aufgabe herauszufinden, was sein Klient will und danach zu handeln", betont Harald Freter, Chef des Bundesverbandes der Berufsbetreuer. Neben Einfühlungsvermögen bräuchten Betreuer vor allem rechtliche Kompetenz und sollten sich im Heimwesen auskennen. Seit vielen Jahren setzt sich der Verband, der rund die Hälfte der derzeit 16 100 deutschen Berufsbetreuer vertritt, für eine geregelte Ausbildung ein. Im Sommer will die Bundesregierung einen Gesetzentwurf für eine Reform im Betreuungsrecht vorlegen. "Im vergangenen Jahr gab es zwar eine Vergütungserhöhung, aber nun wird erstmals auch über die Qualität in der Betreuung diskutiert", sagt Freter. Sein Verband fordert nicht nur einen modularen Masterstudiengang, sondern auch eine Kammer, bei der sich Betroffene beschweren können. "Denn oft versagt auch die gerichtliche Aufsicht."
Heidrun Lange erfuhr erst später, dass der Betreuer in seinen Protokollen behauptet hatte, ihre Eltern hätten sich regelmäßig im Heim gesehen. Kurz vor deren Tod schaffte sie es doch noch, einen Umzug zu erwirken. "So konnte ich den beiden noch zwei gemeinsame Lebensmonate ermöglichen", sagt sie heute.
Über ihre Erfahrungen hat die frühere Lokalredakteurin ein Buch geschrieben. "Es ist mir nicht leicht gefallen, private Gefühle in die Öffentlichkeit zu tragen. Aber inzwischen weiß ich, dass es Hunderttausenden ähnlich geht." Umso wichtiger sei es, rechtzeitig vorzusorgen. "Man kann die Formulare für die Vorsorgevollmacht und die Betreuungsverfügung einfach im Internet herunterladen. Jeder sollte das tun. Denn ob jung oder alt: Es kann jeden treffen."
Heidrun Lange: "Albtraum Betreuung". Was passieren kann, wenn Sie zum Betreuungsfall werden. Langen/Müller Verlag, 18 Euro
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