Als der Moment der Momente nach fünf Monaten endlich gekommen war, bedurfte es laut Urs Fischer keiner großen Worte mehr. Wie der an Krebs erkrankte Timo Baumgartl wenige Stunden vor dem Anpfiff auf die Mitteilung reagiert habe, dass er im Heimspiel des 1. FC Union Berlin gegen den VfL Wolfsburg (2:0) sein Startelf-Comeback in der Fußball-Bundesliga feiern werde? „Wenn ein Spieler eine solche Krankheit überwunden hat“, sagte der Union-Trainer mit Blick auf den Innenverteidiger und hielt kurz inne: „Er hat gar nicht viel gesagt. Er hat einfach nur gestrahlt und sich riesig gefreut.“
Große Erleichterung bei Timo Baumgartl
Wie groß diese Freunde und auch die Erleichterung beim 26 Jahre alten Abwehrspieler von Union Berlin gewesen sein dürften, ist für einen Außenstehenden wohl nur schwer nachzuvollziehen. Dabei gab Timo Baumgartl bereits vor dem Anpfiff der Partie gegen Wolfsburg den gut 22.000 Zuschauern im Stadion An der Alten Försterei einen kleinen Einblick in sein Seelenleben: Denn er betrat mit einem breiten Grinsen den Rasen. Und er schien dieses Grinsen auch bei der Erwärmung gar nicht mehr ablegen zu wollen. „Während der Chemotherapie, während der schwersten Momente in meinem Leben, habe ich in meinem Zimmer gesessen und mir diesen Moment immer ausgemalt – wieder zurück zu sein“, berichtet er später den Journalisten.
Weil der launische Wettergott am Sonntagnachmittag zumindest ein wenig Sonne nach Köpenick schickte, war der Rasen zweigeteilt. Timo Baumgartl lief bei der Erwärmung immer von der Sonne in den Schatten und wieder zurück. So in etwa dürften auch die vergangenen fünf Monate für den Union-Abwehrspieler ausgesehen haben. Im April bekam er die niederschmetternde Diagnose, im Mai machte der Verein die Hodenkrebs-Erkrankung öffentlich. Baumgartl kämpfte danach den bisher schwersten Kampf in seinem Leben. Operation, danach mehrere Chemotherapie-Zyklen.
Motiviert hat ihn in dieser schweren Zeit vor allem der unerschütterliche Glaube an das Comeback im Profifußball. Timo Baumgartl wollte zurück – und zwar so schnell wie möglich. „Dafür habe ich hart gearbeitet, schon während der Chemotherapie. Ich bin jeden Morgen vor der Chemotherapie fünf Kilometer laufen gegangen, weil ich wusste, dass ich diese Kraft brauchen werde“, erzählt er. Später habe ihn dann Unions Reha-Trainer Johannes Thienel „ganz schön über den Platz gescheucht. Es gab auch schweißtreibende Tage, wo ich einfach auf der Couch eingeschlafen bin. Aber das war es wert“.
Lob von Trainer Urs Fischer
Als Stadionsprecher Christian Arbeit am Sonntag um 15.22 Uhr den Namen Timo Baumgartl in der Startelf der Eisernen verliest, gibt es neben dem obligatorischen „Fußballgott“ als Reaktion auch warmen Applaus von den Rängen. In der 6. Minute der Partie gegen Wolfsburg spielt Baumgartl seinen ersten langen Diagonalpass. Er ist einen Tick zu lang und geht ins Aus. In der 32. Minute folgt sein erster gefährlicher Kopfball im Strafraum des Gegners.
Aber im Grunde genommen sind diese statistischen Details an diesem Tag völlig egal. Auch die die sportliche Bilanz von Trainer Urs Fischer stellt den Moment der Momente in den Vordergrund. „Timo hat ein gutes Spiel gemacht, auch wenn noch der eine oder andere Wackler dabei war. Er hat sich dieses Comeback hart erarbeitet“, sagt der Schweizer.
Dabei hätte Timo Baumgartl am liebsten länger gespielt als nur 62 Minuten. Die Kraft hätte auf jeden Fall noch gereicht, versichert der Innenverteidiger. „Aber der Trainer hat die so Entscheidung getroffen. Er will das langsam aufbauen – alles gut. Ich bin ihm nicht böse. Ich bin einfach nur froh, wieder auf dem Platz zu stehen.“
Sportlich hätte das Comeback nicht besser verlaufen können. Union Berlin gewann gegen Wolfsburg und geht als Bundesliga-Tabellenführer in die Länderspielpause. All das genoss Timo Baumgartl am Sonntag in vollen Zügen. Über seine Erkrankung hat er in den vergangenen Wochen und Monaten mit bemerkenswerter Offenheit gesprochen. Nach dem Spiel wurde Baumgartl von den Journalisten gefragt, ob er im Moment rundum glücklich sei oder ihm noch etwas fehle. Seine Antwort: „Neben meinem zweiten Hoden fehlt mir Spielpraxis.“
Schmerzhafte Offenheit von Timo Baumgartl
Diese bisweilen schmerzhafte Offenheit von Timo Baumgartl hat einen guten Grund. Denn ihm ist es wichtig, als positives Beispiel im Kampf gegen den Krebs wahrgenommen zu werden. Mit seiner Reichweite als Profifußballer in der Öffentlichkeit will er anderen Menschen Mut machen. „Ich möchte all den Menschen Hoffnung geben, die da draußen diesen Kampf kämpfen müssen. Ich möchte für sie ein Vorbild sein. Ich möchte ihnen zeigen, dass es möglich ist, den Krebs zu besiegen und sich sein altes Leben zurückzuholen“, erklärte er. „Ich bin ein Beispiel dafür, dass man es schaffen kann.“
Timo Baumgartl hat es geschafft. Er hat sich sein altes Leben als Fußballprofi auf dem Rasen am Sonntag endgültig zurückgeholt. Seinen größten Gegner muss er jedoch weiterhin im Auge behalten, denn: „Endgültig geheilt bin ich nach fünf Jahren.“
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