„Möchten Sie sich vielleicht erst ein Foto von Timo Kählke ansehen?“ Melina sucht den Blick ihres Gegenüber, hält kurz inne, wartet die Antwort ab, weist dabei mit der Hand auf die Foto-Wand. Auf zehn Fotos sind an diesem 9. November 2021 jene Menschen zu sehen, denen die Schüler und Schülerinnen des Lise-Meitner-Gymnasiums (LMG) in Falkensee eine Stimme geben.
Für sie selbst, wird Melina später sagen, war dieses Foto, das Bildnis des jungen Mannes, sehr wichtig. Eine Form der Kontaktaufnahme, Zugang finden zu einem Schicksal, einer Geschichte, die abrupt und brutal endete. Keine Zahl mehr in einer trockenen Statistik, sondern ein junger Mensch, der helfen wollte und dafür ermordet wurde.
Die Täter sind bekannte Neonazis, rechnen sich selbst der „1. Werwolf-Jagdeinheit Senftenberg“ zu. Sie inszenieren eine Autopanne, weil sie ein Fluchtfahrzeug stehlen wollen, um damit ein Spielcasino zu überfallen. Der 27-jährige Familienvater Timo Kählke hält in der Dezembernacht des Jahres 1992 an. Als er sein Auto nicht herausgeben will, schießt ihm der 18-jährige Täter in den Kopf.
Ausstellung im LMG nur einen Tag öffentlich
Melina erzählt seine Geschichte, holt den Mord zurück aus dem Vergessen. Sie und ihre Mitschüler stehen am Abend in der Ausstellungseröffnung im Foyer ihrer Schule. Das „Bündnis gegen Rechts Falkensee“ hat gemeinsam mit dem Lise-Meitner-Gymnasium und der RAA (Regionale Arbeitsstellen für Bildung, Integration und Demokratie) die Ausstellung des Vereins Opferperspektive zu den Opfern rechter Gewalt in Brandenburg nach Falkensee geholt.
Am Dienstag wurde die Ausstellung eröffnet, unter musikalischer Begleitung der Schüler. Leider war die Ausstellung nur an diesem Abend frei zugänglich. Sie steht weiterhin den Schülern des Gymnasiums offen.
Nichts kann eine Ausstellung so lebendig werden lassen, wie der Mensch, der sie vorstellt, berichtet, erzählt. Genau diese Lebendigkeit verliehen die Schüler des Lise-Meitner-Gymnasiums den Opfern tödlicher Attacken durch Rechts-motivierter Gewalt. Sie leihen ihnen ihre Stimmen, holen sie für einen Abend zurück aus den Tiefen des Vergessens. 23 Opfer rassistischer Gewalt werden mit Informationstafeln vorgestellt. Die Schüler haben die Ausstellung in Unterricht und Freizeit vorbereitet.
Er hätte es verdient, zu Hause anzukommen
Was treibt eine 15-jährige wie Melina sich mit Gewalt und Tot auseinanderzusetzen? Weil solche Taten ganz allgemein nicht mehr passieren dürfen. Und: „Timo Kählke hätte es verdient, an diesem Abend zu Hause anzukommen“, sagt Melina mit fester Stimme. Das LMG gehört zum Netzwerk „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“. Verhindert werden, könne Rassismus nicht immer, sagt Melina: „Denn allzu oft findet Diskriminierung nicht äußerlich sichtbar statt.“
Der 9. November, ein Datum, das zeigt, dass aus Diskriminierung Gewalt, tödliche Gewalt, werden kann. Benno König vom Bündnis gegen Rechts erinnert in einer kurzen Ansprache an die Nacht vom 9. zum 10. November 1938, als der Hass gegen einen Teil der Bevölkerung in brutale Gewalt umschlug. Als aus Nachbarn Opfer und Täter wurden.
Tätern wird wenig Raum eingeräumt
Es ist dieser Hass, der auch Rike entsetzt. In dem von ihr geschilderten Mord an Wolfgang Auch ist der Täter 13 Jahre alt. Den Tätern räumt sie in ihren Beiträgen bewusst kaum Raum ein. Es geht um die Opfer, ihr Leid, ihr Andenken, daran lässt die Schülerin keinen Zweifel.
Betroffen macht neben der brutalen Gewalt, mit der die Täter ihren Opfern begegneten, auch der lange Weg bis zur Anerkennung, dass es sich hier um die Opfer von rechter, rassistischer oder sozialdarwinistischer Gewalt handelt. Zu den bekannten Todesfällen listet die „Opferperspektive“ noch drei gewaltsame Todesfälle auf, bei denen Täter, der rechten Szene zwar zugeordnet, das Verbrechen aber keine politische Motivation erkennen lässt.
Seit dem Jahr 1990 sind in Deutschland laut Amadeu-Antonio-Stiftung mindestens 193 Menschen durch rechte Gewalt um Leben gekommen. Das Bundeskriminalamt zählt dagegen nur 88 Fälle. Letztlich entscheidet die behördliche Definition über die Anerkennung als Opfer rechter Gewalt.