Von Lebenswelten im Umbruch erzählt die Ausstellung „Kietzer Wenden“, die am Sonnabend, 6. Mai, um 11 Uhr im Bahnhof Küstrin-Kietz eröffnet wird. Dabei geht es nicht um die historische Revolution an sich, die 1989 nahezu friedlich gelang. Diese Ausstellung, die von den Mitgliedern des Vereins „Kietz-Bahnhof/Dworzec Chyza“ konzipiert und umgesetzt wurde, widmet sich vielmehr den kleinen Details im Leben einzelner Menschen, die in der großen zeitgeschichtlichen Diskussion oftmals in Vergessenheit geraten.
Dreißig Jahre Lebensleistung
Mit dem großen Umbruch von 1989 und der Wiedervereinigung 1990 gingen Veränderungen in nahezu allen Lebensbereichen einher. Alle Menschen, die jene Zeit im Osten Deutschlands miterlebten, haben seither ihre Alltagsgeschichten zu erzählen. Die Macher der Ausstellung um den Vereinsvorsitzenden Jürgen Danyel nutzen den – wie er es nennt – „Mikrokosmos Küstrin-Kietz“, um zu thematisieren, welche Lebensleistungen die Menschen in den vergangenen gut dreißig Jahren zu bewältigen hatten.
Welche Erfahrungen haben die Menschen in Küstrin-Kietz nach dem Ende der DDR und in der deutschen Vereinigungsgesellschaft gemacht? Wie sah ihr weiterer beruflicher und privater Lebensweg aus? Wie haben sie den rasanten Wandel ihrer Lebenswelt verkraftet und verarbeitet? Welche Erwartungen hatten sie und wie haben sie die neu gewonnenen Freiheiten, nicht zuletzt die Freizügigkeit im Verhältnis zu ihren polnischen Nachbarn an der Grenze genutzt? Das waren Fragen, die den Protagonisten gestellt wurden.
Corona-Pandemie sorgte für Verzögerungen
„Ich dachte, es wird schwieriger, die Menschen für ein Interview zu gewinnen“, sagt der Berliner Historiker Danyel heute – gut drei Jahre nachdem das Projekt 2020 begonnen hat. Wie bei vielen Vorhaben kam auch den Mitgliedern des Vereins „Kietz-Bahnhof/Dworzec Chyza“ die Corona-Pandemie dazwischen. Insgesamt zehn Leute schilderten letztendlich ihre Wahrnehmungen der Jahre nach 1989. Was als Erfahrungsbericht der Nach-Wende-Zeit gedacht war, ging oftmals weit darüber hinaus. „Es sind nicht selten Gespräche über das ganze Leben geworden“, so Jürgen Danyel gegenüber MOZ.de. „Bis tief in das Private hinein.“
Mit dem Fall der Mauer, der deutschen Einheit und der Grenzöffnung 1992 zu Polen verbanden die Menschen in Küstrin-Kietz viele Hoffnungen und Erwartungen. Die neue Freizügigkeit an der deutsch-polnischen Grenze wurde schnell zum Alltag. Der ersehnte wirtschaftliche Aufschwung an der Oder hat aber bislang in erster Linie auf der polnischen Seite stattgefunden. Während sich Kostrzyn mit der Sonderwirtschaftszone inzwischen dynamisch entwickelt, haben die Einwohner von Küstrin-Kietz die Entwicklung ihres Ortes nach 1990 in erster Linie als Verlusterfahrung erlebt.
Keine Aufbruchstimmung in Küstrin-Kietz
„Vor allem die jüngeren Leute sind weggezogen“, resümiert Jürgen Danyel. Der Güterbahnhof wurde abgewickelt und die mit ihm verbundenen Arbeitsplätze abgebaut, das ortsansässige Armaturenwerk geschlossen, Kindergarten, Schule und Läden wurden dichtgemacht. Projekte wie die Entwicklung der Oderinsel oder der Ausbau der Ostbahn sind Visionen für die Zukunft geblieben. „Viele Ostdeutsche fühlen sich immer noch vernachlässigt“, schätzt der Historiker ein. „Im benachbarten Polen herrscht demgegenüber Aufbruchsstimmung.“
Darüber hat Jürgen Danyel mit den Menschen aus Küstrin-Kietz geredet. Die Gespräche durften auch mehrere Stunden dauern. Dabei kamen auch Dinge auf den Tisch, die schon längst vergessen waren. „Denn die Erinnerungen an die DDR und an die Zeit danach verschieben sich“, meint Danyel. „Je länger sie her sind, desto milder werden sie.“ Bespitzelungen durch die Stasi seien beispielsweise solch ein Thema gewesen. „Aber wir wollen in unserer Ausstellung niemanden vorführen oder anklagen“, versichert er. Auch, wenn es Gerüchte im Ort gab und gibt.
Befragte stilvoll von Holger Herschel fotografiert
Das Herzstück von „Kietzer Wenden“ sind die ansprechenden Porträt-Fotografien, die Holger Herschel von den Befragten anfertigte. Sie sind authentisch, stilvoll, in Schwarz-Weiß. Ziel war es, die Leute so abzulichten, wie sich selbst sehen und wie sie sich ansehen lassen wollen. Diese Werke sind in der Ausstellung zu sehen. Und die Interviews können in Auszügen über Medienstationen angehört werden.
Die Eröffnung von „Kietzer Wenden“ wird am Sonnabend ohne großes Brimborium vonstattengehen. „Die Leute, die interviewt wurden, sind dabei“, kündigt Jürgen Danyel an. Zudem hoffen er und seine Mitstreiter aus dem Verein „Kietz-Bahnhof/Dworzec Chyza“ auf möglichste viele Besucherinnen und Besucher aus dem Ort. Prominente aus Politik und Verwaltung seien absichtlich nicht explizit eingeladen worden. Danyel: „Es geht um die Menschen aus Küstrin-Kietz.“
Die Ausstellung „Kietzer Wenden“ des Vereins „Kietz-Bahnhof/Dworzec Chyza“ kann vom 6. Mai bis 1. Oktober 2023 sonnabends und sonntags jeweils zwischen 10 und 17 Uhr im Bahnhof Küstrin-Kietz besichtigt werden.