Herr Ehler, wie sieht der Alltag eines EU-Abgeordneten aus, der jetzt nicht nach Brüssel und nur eingeschränkt durch Brandenburg reisen kann?
Mein Alltag findet vor dem Computer statt. Nehmen wir Montag. Da begann es um halb 8 mit einer Telefonkonferenz. Dann nahm ich an der Videokonferenz der EU-Kommission teil, bei der wir Abgeordnete mit den Generaldirektoren zusammengeschlossen sind. Anschließend habe ich fast eine Stunde mit dem brandenburgischen Wirtschaftsminister telefoniert. Später sprachen wir Koordinatoren des Wirtschaftsausschusses des EU-Parlaments uns per Webkonferenz über die nächste Ausschuss-Sitzung ab, dann ging es mit zwei Kommissaren weiter. Und so geht der Tag dahin.
Brüssel ist also jetzt bei Ihnen praktisch zu Hause in Potsdam?
Und zwar buchstäblich. Es erstaunt mich selbst, wie gut das geht. In der vergangenen Woche haben 740 Abgeordnete aus 27 Ländern eine gemeinsame Plenarsitzung von zu Hause bestritten – mit Übersetzungen in 16 verschiedene Sprachen und allen Drum und Dran. Natürlich knirscht es dabei auch. Die meistgesprochenen Sätze in allen europäischen Sprachen sind derzeit: Können Sie mich hören? Können Sie mich sehen?
Wahrscheinlich wünschten Sie sich, die eine oder andere Sache bei einer Tasse Kaffee persönlich besprechen zu können?
Na klar. Gerade, wenn man mit so verschiedenen nationalen Charakteren umgeht, weiß man schon, dass es nicht gerade sinnvoll ist, mit einem spanischen Kollegen etwas morgens um 8 besprechen zu wollen. Wenn Sie sich mit dem abends um 9 oder vielleicht auch erst um 10 zu einem Glas Wein verabreden, sagt er Ihnen differenzierter, worin eigentlich die spanische Position zu einem bestimmten Problem besteht. Solche Zwischentöne gehen in so statischen Videokonferenzen ein bisschen verloren.
Die EU erscheint ja momentan sehr widersprüchlich. Einerseits wird die mangelnde Solidarität zu Beginn der Corona-Krise beklagt. Andererseits sollen riesige Sonderprogramme in Milliardenhilfe entstehen, bei denen man sich fragt, woher das Geld kommen soll. Was sagen Sie dazu?
Fangen wir mal von vorn an: Schon in den ersten beiden Wochen von Corona hat die EU-Kommission eine halbe Milliarde Euro aus dem Haushalt umgeschichtet und in die Entwicklung von Tests und Impfungen geleitet.
An dieser Stelle sollte man auch mal Folgendes erwähnen: Wenn uns das Robert-Koch-Institut regelmäßig darüber informieren kann, wie die aktuelle Lage in Italien, Schweden oder anderen Ländern ist, dann ist das die Folge davon, dass wir 30 Jahre in einen gemeinsamen europäischen Forschungsraum investiert haben. Nirgendwo auf der Welt gibt es eine Region, in der nationale Forscher – wie jetzt eben vor allem Virologen und Epidemiologen – so eng über Grenzen hinaus zusammenarbeiten.
Auf einer zweiten Ebene muss man sehen, wie die Nationalstaaten auf Krise reagiert haben. Da gab es natürlich Verwerfungen, aber das liegt vor allem daran, dass der Gesundheitsschutz laut den Europäischen Verträgen keine Angelegenheit der EU ist. Jeder Mitgliedsstaat ist da autonom in seinen Entscheidungen, ähnlich wie in Deutschland die einzelnen Bundesländer. Deshalb wurden auch nie gemeinsame Strategien gegen eine Pandemie entwickelt. Im Widerspruch dazu steht, dass aufgrund der hohen Mobilität innerhalb der EU einzelne Staaten gar nicht in der Lage sind, eine Pandemie allein zu bekämpfen.
Nun sitzen aber alle 27 Staaten gemeinsam in der größten Wirtschaftskrise seit dem Zweiten Weltkrieg!
Genau. Daraus entsteht wiederum die Frage, wie wir gemeinsam damit umgehen. Deshalb soll ja auch ein gemeinsamer Fonds von 500 Milliarden Euro zum Wiederaufbau gebildet werden.
Dafür müssten aber die Länder bereit sein, mehr Geld für die EU auszugeben. Sehen Sie diese Bereitschaft?
Die sehe ich schon. Weil wir eben nicht mehr von nationalen Volkswirtschaften reden, sondern von dem einen, eng verflochtenen europäischen Binnenmarkt, aus dem beispielsweise Deutschland 60 Prozent seiner Wirtschaftskraft erzielt.
Andererseits hat etwa Polens Regierungschef Mateusz Morawiecki bereits ziemlich deutlich gefordert, dass sich an der Höhe der Agrarzuschüsse und Regionalfonds für sein Land möglichst nichts ändern soll.
Die Kunst der deutschen EU-Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2020 wird daran bestehen, einen Kompromiss für den europäischen Haushalt der kommenden sieben Jahre zu erzielen. Und klar ist auch, dass man bei einer solchen Krise nicht einfach zu dem Status von vorher zurückkehren kann.
Sagen wir mal so: Die Zeit der von der EU großzügig finanzierten Umgehungsstraßen oder des einen oder anderen Prestigeprojekts für regionale Politiker dürfte vorbei sein. Stattdessen muss die volle Aufmerksamkeit auf Innovation und wirtschaftliche Entwicklung gerichtet werden.
Sie sind für das gemeinsame EU-Forschungsrahmenprogramm "Horizont" zuständig und haben vorsichtshalber auch gefordert, dass dies in den kommenden sieben Jahren wegen Covid-19 nicht nur 100 sondern 120 Milliarden Euro umfassen soll. Ist das realistisch?
Ich bin überzeugt, es geht gar nicht anders. Die Grundlage dafür, dass Europa in einem globalen Wirtschaftswettbewerb erfolgreich sein kann, besteht in der Innovation. Im Interesse des Klimaschutzes wollen wir außerdem bis 2030 alle CO2-Emmissionen um die Hälfte reduzieren. Um diese Ziele umsetzen zu können, brauchen wir in vielen Bereichen aber erst einmal die Technologien.
Die Corona-Krise führt uns deutlich vor Augen, dass Europa einen riesigen Digitalisierungsschub braucht. Woher kommen aber die Innovationen, wenn wir nicht einfach nur amerikanische Hard- und chinesische Software kaufen wollen? Die muss aus unserer eigenen Kraft entstehen, damit wir nicht zur digitalen Kolonie werden.
Und man kann sicher schon jetzt sagen, dass Corona nicht die letzte Pandemie sein wird und wir uns auf neue Herausforderungen einstellen müssen. Europa gibt bisher nur zwei Prozent seines Bruttosozialprodukts für Forschung und Innovation aus. Das ist zu wenig.
Was bedeutet dies nun alles für Brandenburg?
Uns muss vor allem klar sein, dass im nächsten halben Jahr wichtige Weichen für die Entwicklung des europäischen Binnenmarkt gestellt werden. Und dass es nicht nur darum geht, wie viel Mittel Brandenburg davon abbekommt, sondern vor allem wie wir in internationale Forschungs- und Wirtschaftskonsortien eingebunden sind.
Die Milliarden, die etwa die Lausitz vom Bund und von der EU bekommen soll, können ja nicht nur für die Förderung kleiner und mittelständischer Unternehmen verwendet werden. Der Rahmen muss größer gesetzt werden. Bisher sind wir durch den rechtlichen Rahmen für Beihilfen noch limitiert und da brauchen wir mehr Fußfreiheit. Die Frage: Kann auch die Großindustrie Geld bekommen?, muss neu beantwortet werden.
Welche weiteren Herausforderungen gibt es für Brandenburg?
Die Standorte unserer Stahlindustrie müssen gerade wegen der Corona-Krise vor Billigimporten aus Asien geschützt werden.
Ein weiteres Thema ist, dass wir die Energiewende noch weiter differenzieren müssen. In Zukunft müssen wir Wasserstoff sowohl als Ersatz für Kohle, als Speichermedium und als Betriebsstoff in der Mobilität einsetzen. Brandenburg hat alle Voraussetzungen, um dafür in Europa eine Pilotregion zu werden.
Hat Brandenburg für solche Projekte überhaupt genug Man-Power? Momentan sind im Wirtschaftsministerium doch fast alle damit beschäftigt, die Tesla-Investition trotz Corona umzusetzen.
Ich glaube schon, dass wir bei Einzelprojekten inzwischen besser dastehen, als noch vor zwei, drei Jahren. Was fehlt, ist die etwas übergeordnete Strategie, um uns in internationale Entscheidungsprozesse noch besser einzubringen. Manchmal fehlt einfach der Mut, etwas größer zu denken und sich auch als Staat an der Bildung von Konsortien und Pilotregionen eine Zeitlang unternehmerisch zu beteiligen.
Wie gesagt, die EU ist gerade dabei, ihre Wasserstoff-Strategie zu formulieren und sucht Partnerregionen dafür. Man könnte die Frage stellen: Fangen wir in Schwedt mit der Produktion von Wasserstoff an und kriegen wir entlang von Oder und Neiße eine Transportschiene über Eisenhüttenstadt bis zur Lausitz hin? Wenn man als Land sagt, dafür stelle ich die Infrastruktur bereit, wird man für die Industrie natürlich interessant. Da haben wir auch durch unsere Berlin-Nähe eine strategische Position.
Zur Person
Der 56-jährige Christian Ehler stammt aus München und hat an der dortigen Ludwig-Maximilians-Universität nach einem Studium in Journalistik, Politologie und Volkswirtschaftslehre 1993 zum Thema "Die US-Handelspolitik in den Reagan-Jahren" promoviert. Er war auch eine Zeitlang Student an der American-University in der US-Hauptstadt Washington.Seit 1998 war Ehler für verschiedene Technologiefirmen in Berlin und Brandenburg tätig. Er gehört dem CDU-Kreisvorstand Oberhavel und dem CDU-Landesvorstand von Brandenburg an. 2004 stellte ihn seine Partei als Spitzenkandidat bei der Europawahl auf, seither ist er ständig im EU-Parlament vertreten. Aktuell ist er Mitglied und Koordinator im Ausschuss für Industrie, Forschung und Energie sowie Mitglied in der Delegation für die Beziehungen der EU zu den USA. Als Berichterstatter hat er den Entwurf für das gemeinsame EU-Forschungsrahmenprogramm "Horizont" mit erarbeitet – das größte Forschungsprogramm weltweit. Ehler ist verheiratet, hat drei Kinder und lebt in Potsdam-Sacrow. ds