Ein Kochtopf, eine Emaille-Tasse und ein paar Teller sind das Begrüßungsgeschenk, das Edith Anna Haase und ihre 80-jährige Mutter am 16. Juni 1989 im Notaufnahme-Lager Berlin-Marienfelde überreicht bekommen. Die DDR wird es zu diesem Zeitpunkt nicht mehr lange geben. Die beiden Frauen gehören zu den letzten großen Flüchtlingswellen, die nach Flucht oder Ausreise im Sammellager im Süden Berlins stranden.
„Wir schliefen zu elft in zwei Räumen, es war alles so überfüllt, dass ich in den drei Monaten nur sechs Mal duschen konnte“, erzählt Haase, während sie durch die engen Räume mit Doppelstockbetten führt, die heute nur noch als Anschauungsobjekt dienen.
Auch Umzugskartons waren in der DDR Mangelware
Sie ist eine der Zeitzeugen, die an diesem Wochenende in der Erinnerungsstätte Marienfelde anlässlich des 70. Jahrestages des deutsch-deutschen Flüchtlingslagers ihre Geschichte erzählen werden. In den Vitrinen des heutigen Museums steht auch die alte Schreibmaschine, mit der sie akribisch all ihre Habseligkeiten auflisten musste, die sie damals mit in den Westen nehmen wollte.
Der DDR-Zoll verlangte die Listen von jedem Ausreisenden in sechsfacher Ausführung. „Es gab aber nur fünf Durchschläge, so musste ich das alles noch einmal abschreiben, das gehörte zur Schikane“, erzählt Haase. Eine der Kisten, mit der ihr Freunde Bücher nachschickten, ist ebenfalls im Museum verewigt. „Selbst die Kartons waren in der DDR schwer zu bekommen. Ich musste sie in einem rumänischen Weinladen schnorren.“
Geld und Wertgegenstände waren stattdessen auf der Reise in das neue Leben auf der anderen Seite der Mauer untersagt. Damit auch nichts geschmuggelt wurde, kippten die Grenzer am Übergang Friedrichstraße den Inhalt der Koffer von Edith Anna Haase und ihrer Mutter einfach auf einen Haufen und durchwühlten alles. „Wir mussten sechs Stunden beide stehend warten. Bei meiner Mutter, die auf Krücken stand, waren beide Füße durchgescheuert.“
Mit der S-Bahn ging es nach Marienfelde. Das Notaufnahmelager wurde schon 1953 aufgrund einer massiven Fluchtbewegung eigens für Menschen aus der DDR eingerichtet. Ab 1964 wurden dort auch Aussiedler aus Süd- und Osteuropa aufgenommen. Allein 1,35 Millionen Menschen, die die DDR in Richtung Bundesrepublik verließen, passierten von 1953 bis 1990 das Westberliner Notaufnahmelager.
Mit dem Laufzettel zu elf Behörden
In der heutigen Dauerausstellung kann man auch die üblichen Laufzettel betrachten, die jeder einzelne von ihnen bekam. Elf multimediale Türen stehen für die elf Behörden, die die Übersiedler nach ihrer Ankunft abarbeiten mussten, vom Ärztlichen Dienst über die Polizeiliche Anmeldung bis zur Alliierten Sichtungsstelle.
Besucher, die in der Ausstellung zum Beispiel die Tür zum „Aufnahmeausschuss“ öffnen, werden im herrischen Ton von damals befragt, von welchen Organen man im Osten verhört wurde und mit wem man zusammen die deutsch-deutsche Grenze übertreten hat. „Diese Befragungen gingen häufig zwei Stunden“, berichtet Haase.
Für jede Anlaufstelle habe man nach dem Anfangsbuchstaben des Nachnamens geordnet eine Wartemarke ziehen und unter anderem eine zweiseitige Erklärung formulieren müssen, warum man die DDR verlassen hat, so die Zeitzeugin.
Im Keller des Lagers, dessen angrenzende Wohnblöcke zum Teil seit 2010 wieder als Übergangsheim für Menschen aus aller Welt genutzt werden, habe man 6000 Stempel gefunden, berichtet Haase, die nach der Wende den Verein „Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde“ mitgegründet hat.
Wegen des Ausreiseantrages zur Klofrau degradiert
Seitdem setzt sie sich mit Führungen gegen das Vergessen ein. „Ich möchte, dass die Leute wissen, dass wir in der DDR als die Aufmüpfigen schikaniert wurden, aber uns auch im Westen eigentlich keiner so richtig wollte.“
Ab 1983 durfte sie ihren Beruf als Russisch-Dolmetscherin nicht mehr ausüben, weil sie nicht Mitglied der SED war. Als sie 1984 einen Ausreiseantrag stellte, wurde sie auch in der Komischen Oper, wo sie inzwischen als Kostümbildnerin arbeitete, degradiert. „Ich sollte zweieinhalbtausend Balletttrikots auf Löcher und Laufmaschen kontrollieren und 4500 Schuhe in Karteikarten eintragen. Nachdem ich damit fertig war, habe ich noch vier Jahre als Toilettenfrau gearbeitet.“
In den letzten Jahren in der DDR schließt sich Haase einer kirchlichen Oppositionsgruppe in Treptow an. Doch erst im Umbruchsommer 1989 lässt man sie gehen. Sie hat zehn Tage Zeit, um alle Sachen zu packen und die Listen zu fertigen. In diesem Fall hat sie noch Glück. Manche anderen Ausreise-Antragsteller wurden innerhalb von drei Tagen der DDR verwiesen.
Von der 100 Quadratmeter Wohnung in Prenzlauer Berg, für die Haase und ihre Mutter 55 Ostmark im Monat Miete zahlen, geht es über den Tränenpalast an der Friedrichstraße in das völlig überfüllte Aufnahmelager in Marienfelde. Als nur wenige Monate später ZK-Sekretär Günter Schabowski im Fernsehen die neue Reiseregelung verkündet, bekommt die damals 49-Jährige einen Weinkrampf. „Ich dachte mir, da haben sie uns all die Jahre so gequält und dann machen sie mal einfach so über Nacht die Mauer auf.“
19.000 DDR-Flüchtlinge auf einen Schlag
Am historischen 9. November kommen noch einmal 19.000 DDR-Flüchtlinge auf einen Schlag nach Marienfelde. Die Küchenbaracke bleibt da schon lange kalt. „Wir sind mit dem Begrüßungsgeld immer rüber zum Plus-Markt und haben uns Fertiggerichte gekauft.“ Haase und ihre Mutter, die auf den Rollstuhl angewiesen ist, müssen noch drei Jahre lang in einem Asylantenheim in der Nähe leben. In West-Berlin herrscht in den Wende-Jahren eine ähnliche Wohnungsnot wie heute. „Ich habe 275 Wohnungsbewerbungen geschrieben“ Mit Jobs sieht es für sie nicht viel besser aus.
Ihr Studienabschluss der Humboldt-Uni wird in Westberlin nicht anerkannt. Sie lernt nochmal Französisch und Englisch und arbeitet in der Berliner Touristen-Information, bis diese privatisiert wird. Seitdem verdient Haase bis heute ihr Geld als Freiberuflerin mit Stadtführungen zu verschiedensten Themen.
Die Rente reicht kaum zum Leben
Vom schönen Viktoria-Luise-Platz in Schöneberg musste sie vor kurzem wegziehen, weil die Mieten dort angestiegen sind. Ihre kleine Rente reicht kaum zum Leben, so arbeitetet sie bis heute.
Die Führungen in Marienfelde aber, bei denen sie auch die heutigen Schicksale der internationalen Flüchtlinge beleuchtet, sind für sie kein Broterwerb, sondern eine Herzensangelegenheit. „Ich möchte vor allem der Jugend vermitteln, dass sie sich dafür einsetzen soll, dass politische Immigration nicht mehr nötig sein muss“, betont die 1940 geborene Frau, die schon als Kind aus dem Sudetenland flüchten musste.
Zeitzeugengespräche, Tagungen und Familienprogramm
Die Stiftung Berliner Mauer veranstaltet anlässlich des 70. Jahrestages der Eröffnung des Notaufnahmelagers Marienfelde einen Festakt (14. April) sowie eine wissenschaftliche Tagung (12. bis 14. April) sowie ein Programmwochenende (15. und 16. April). Die Veranstaltungen finden in der Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde zum Teil in Kooperation mit dem Internationalen Bund statt, der das Übergangswohnheim direkt neben der Erinnerungsstätte betreibt.
Besucher erwarten Zeitzeugengesprächen, Kreativ-Angeboten für Familien sowie einer Buchvorstellung mit Objektpräsentationen sowie die Sonderausstellung Here and Now!, Workshops und Führungen. Der Eintritt ist frei.
Das gesamte Programm findet sich unter www.stiftung-berliner-mauer.de