Die Stigmatisierungen „Gewinner“ und „Verlierer“ kann Katja Tannert nicht leiden, wenn es um die Wende geht. Das Gefühl, dass die realen ostdeutschen Erfahrungen und Sichtweisen in Politik und Geschichtsschreibung kaum eine Rolle spielen, bewog die in Frankfurt (Oder) geborene Künstlerin, sich mit den Geschichten ihrer eigenen Familie auseinanderzusetzen.
„Die Wende war erdrutschartig. Drei neue Regierungen innerhalb eines Jahres, neue Gesetze, neue Währung, neue Wörter und tausend neue Dinge“, sagt Tannert. Sie selbst war allerdings erst elf Jahre alt, als die Mauer fiel. So hat die Schauspielerin in den vergangenen Jahren viele Interviews mit Verwandten geführt und nun im „Atelier für Nachwendegeschichten“ zu einer Ausstellung aufbereitet, die am Sonnabend unter dem Titel „Ostglut“ im Haus der Statistik eröffnet wird.

Zur Umschulung ins Sauerland

In der Pop-Up-Ausstellung werden vom 16. bis 22. April 2023 unter anderem die tiefen Einschnitte während und nach der Wende anhand von Lebensereignisse ihrer Familienmitglieder nach der Maueröffnung beleuchtet. Tannerts Eltern arbeiteten 1989 seit über 15 Jahren im Frankfurter Halbleiterwerk, als die DDR aufhörte zu existieren.
Der Vater war Forscher, der im Labor Schaltkreise entwickelte, die Mutter arbeitet in der Verbesserungsabteilung. „Doch plötzlich gab es weder etwas zu forschen, noch zu produzieren“, erzählt Tannert. Aus 40- bis 50-Stunden-Wochen wurde Kurzarbeit, begleitet von einer großen Ungewissheit: Hat das Werk überhaupt noch eine Zukunft? Oder werden wir abgewickelt?
Tannerts Eltern suchten sich sinnvolle Umschulungen. „Schnellbesohlung“ wurde das damals genannt, wenn wie am Beispiel von Tannerts Vater aus einem studierten Chemiker in einem halben Jahr ein „Marktkauf“-Betriebswirt gemacht wurde.
In Fahrgemeinschaften fuhr er regelmäßig zu Arbeit und Weiterbildung ins Sauerland. Wann es zurück nach Hause zurückging, war nicht im Vertrag festgelegt. „Das war ein fast koloniales Verhalten damals“, beschreibt es die Tochter. „Den ostdeutschen Arbeitskräften wurde im Westen ein Sozialleben mit schulpflichtigen Kindern scheinbar nicht zugestanden.“
Willige Arbeitnehmer gab es in der Nachwendezeit ja genug. „Alleine aus der Abteilung meines Vaters wurden rund 1000 gut ausgebildete Speziallisten entlassen, die um Stellen in Konkurrenz traten.“
Dass er sich weit unter Wert verkaufte, wurde Tannerts Vater spätestens klar, als er beim Ware-Einräumen gerade vor einem Regal kniete und ihn jemand mit dem Fuß ans Gesäß trat: „Ey, wo sind denn hier die Kondome?“

Im Anzug in Frankfurt (Oder) auf Jobsuche

Dafür habe ich nicht studiert, dachte sich der fast 50-Jährige. „Mein Vater ist dann in Frankfurt (Oder) im Anzug die Betriebe abgelaufen und hat sich überall persönlich vorgestellt“. Bei der IHK hatte man dann schließlich die passende Stelle für ihn. „Er hat dort im Messebereich bis zu seiner Rente gearbeitet“, berichtet Tannert.
Für die erfolgreiche Jobsuche musste man damals viel Eigeninitiative und eine gewisse Weitsicht mitbringen, hat Tannert aus den Gesprächen mitgenommen. „Die persönliche Lernkurve war dabei innerhalb kürzester Zeit unfassbar groß“. Attribute, auf die die „Ossis“ eigentlich stolz sein könnten, findet die Künstlerin. „Doch die eigenen Stärken wie Kreativität und Flexibilität zu erkennen und vor allem auch zu benennen, scheint wiederum nicht die Stärke der ostdeutschen Wende-Generation zu sein“, hat Tannert festgestellt.

Performance zur Vernissage

Dem Lebensgefühl von damals und heute gehen sie und ihre Mitstreiter in Performance-Videos nach, die Tanz, Bewegung, Sprache, Comedy und symbolische Gegenstände vereinen. Auch Tannert, selbst Schauspielerin, wird zur Vernissage sowie zur Finissage Live-Performances zeigen.
Die sieben Protagonisten werden bei der Ausstellungseröffnung am Sonnabend um 18 Uhr ebenfalls anwesend sein. „Sie stehen beispielhaft für alle, die die Wende und ihre Folgen erlebt haben“, sagt Tannert. Neben Eltern, Onkel und Tante, hat Tannert auch ihre Cousine und ihren Cousin befragt, die während der Umbruchszeiten an der TU Dresden studierten und sich zum Teil schon vor dem 9. November 1989 politisch engagierten.
„Meine Cousine hat durch die Fluchtbewegungen im Sommer 1989 auch ihren besten Freund verloren, den sie nie wiedergesehen hat“, berichtet Tannert. „Er war einfach weg, ohne Bescheid zu sagen, weil er sie schützen wollte.“
Das Ausbluten des Landes habe aber auch in der Folgezeit etwas mit den Zurückgebliebenen gemacht, ist sich die Ausstellungsmacherin sicher. Von 1991 bis 2017 sind rund 3,7 Millionen Ostdeutsche Richtung Westen gezogen, betont Tannert. „Man vergisst dabei, dass dadurch nicht nur das wirtschaftliche, sondern auch das soziale Umfeld eine große Erschütterung erlebt hat.“
Der Ort, wo Tannert und ihr achtköpfiges Projektteam vom „kollektiven Erdbeben“ erzählen, ist selbst ein Wende-Wandel-Beispiel. Das Haus an der Otto-Braun-Straße am Alexanderplatz war zu DDR-Zeiten Sitz der Zentralverwaltung für Statistik.
Nach der Wende zogen das Bundesamt für Statistik mit einer Außenstelle und die Stasi-Unterlagenbehörde ein. Seit 2008 stand die Immobilie leer, die 2017 vom Land Berlin gekauft wurde. Seitdem arbeitet die Stadtgesellschaft an der „gemeinwohlorientierten Entwicklung“ der Riesen-Immobilie in bester Lage.

„Atelier für Nachwendebiografien“

Katja Tannert ist mit dem „Atelier für Nachwendebiografien“ einer der Pionier- und Zwischennutzer. Wie Dirk Oschmanns Buch „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“, das erst vor wenigen Wochen erschien, aber schon für heiße Diskussionen sorgte, kritisiert Tannert in der Ausstellung auch den Blick von Außen auf Ostdeutsche: „Das damals Erreichte wie die daraus erwachsenen Kompetenzen werden bis heute zu wenig anerkannt. Dabei haben die vermeintlichen Verlierer der Geschichte selbst die Wende auf der Straße eingeleitet und auch heute noch viel zur Gesellschaft beizutragen.“
Tannert Meinung nach wurden unter anderem bei der Ausarbeitung des damaligen „Einheitsvertrages“ die Chance verpasst, „auch mal alte eingefahrene Strukturen im Westen zu hinterfragen und gemeinsam etwas Neues geschaffen.“

Buchautor Dirk Oschmann zu Gast in der Ausstellung

Doch die 45-Jährige möchte nicht nur aufrütteln, sondern vor allem auch versöhnen: „Meine anfängliche Wut ist als Energie in die Ausstellung geflossen. Dort möchte ich Empathie für ostdeutsche Biografien erwecken und ein gerechtes Gesellschaftskonzept anregen.“
Deshalb soll es wie nach der Maueröffnung in der Ausstellung einen Runden Tisch geben, an dem West- und Ostdeutsche mit der Künstlerin zusammensitzen und ihre Perspektiven einbringen können. Unter anderem kommt auch Buchautor Oschmann am Mittwoch um 17 Uhr in die Runde im Hangar „Otto“ am Haus der Statistik, um sich mit Besuchern auszutauschen.

Optimismus und Vertrauen in die eigene Kraft

Seitdem sie für die Recherche zur Ostglut-Schau so tief in ihre Familiengeschichten eingetaucht ist, glaubt Tannert, dass auch sie selbst als Spätgeborene eine besondere Art der Wende-Sozialisation erfahren hat. „Der Werdegang meiner Angehörigen hat mir gezeigt, dass es wichtig ist, immer optimistisch zu bleiben und auf seine eigene Kraft zu vertrauen“, sagt die Künstlerin. Das gebe ihr auch in persönlichen Krisen das Gefühl: „Mir wird schon immer etwas einfallen. Ich werde nicht auf der Straße landen.“

Ausstellung und Rahmenprogramm

● Die Ausstellung „Ostglut – Atelier für Nachwendegeschichten“ im Hangar „Otto“ am Haus der Statistik an der Otto-Braun-Straße 70 bis 72 in Berlin-Mitte ist vom 16. bis 22. April 2023 zu sehen und täglich von 12 bis 20 Uhr geöffnet.
● Der Eintritt beträgt 3 bis 5 Euro. Die Vernissage findet am Sonnabend, 15. April, um 18 Uhr statt. Die Finissage am 22. April um 15 Uhr.
● Am 19. April diskutiert Buchautor Dirk Oschmann um 17 Uhr mit Besuchern. Mehr Infos und mehr zum Rahmenprogramm unter ostglut.de.