Sie holten das Mädchen heraus und erklärten, dass ihr Vater als Inhaber eines privaten Friseursalons ein Gegner des Staates sei und sie sich als seine Tochter das Medizinstudium abschminken könne. Ein halbes Jahr später musste die 14-Jährige ihre Schulkarriere beenden. "Sie wollten damit meine Familie treffen", sagt die inzwischen 72 Jahre alte Regina Herrmann zurückblickend.

Mit dem Spitzel ins Kino

Aber das war nur der Auftakt von jahrelangen Zersetzungs-Maßnahmen, die sich schnell gegen die Jugendliche selbst richteten und für die sie nun, mehr als 30 Jahre nach der Wende, entschädigt wurde. "Sechs Männer waren auf mich angesetzt. Sie wollten mich als Flittchen hinstellen. Mein Ruf im Ort sollte zerstört werden." In den Akten sind einige Arbeitsaufträge dokumentiert. So sollte sich der Geheime Mitarbeiter "Robert Mann" im November 1965 im Friseursalon der Familie die Haare schneiden lassen, bei der Gelegenheit die dort inzwischen arbeitende Regina ins Kino einladen und dann "ihre politische Meinung und die Einstellung zur Staatsgrenze nach Westberlin in Erfahrung bringen".
Ein anderes Mal bekam der Spitzel den Befehl, sich ihr in einem Lokal namens "Florapark" zu nähern: "Fordern Sie sie zum Tanzen auf und machen Sie ihr gegenüber Komplimente über ihr vorteilhaftes Aussehen!" Ziel war, an belastende Informationen zu kommen.
Als man glaubte, gegen die inzwischen 18-Jährige genug in der Hand zu haben, wurden ihr in einem Verhör geplante Republikflucht und staatsfeindliche Hetze vorgeworfen. Die Stasi drohte mit Zuchthaus und der Verhinderung jeglicher beruflicher Entwicklung. Es sei denn, sie sage zur "Wiedergutmachung" gegen ihre Eltern aus.
Regina Herrmann kapitulierte vor der Drucksituation in dem dunklen und verschlossenen Verhörraum mit fünf Männern, gab eine Verpflichtungserklärung ab und ließ sich dann einfach fallen. "Ich habe gesagt, dass ich Schmerzen habe und ins Krankenhaus muss." Die junge Frau täuschte eine Blinddarmentzündung vor und wurde unnötigerweise operiert.

Schuld und Scham

Nach ein paar Treffen mit der unter Zwang neu gewonnen Inoffiziellen Mitarbeiterin "Ina Flohr" gab die Stasi entnervt auf. Sie sei von Anfang an nicht bereit gewesen, Informationen zu liefern, "so dass eine weitere Zusammenarbeit erfolglos erscheint", heißt es in einer Abschlusseinschätzung.
Regina Herrmann empfand dennoch Schuld und Scham, sich zur Aussage gegen die eigenen Eltern bereiterklärt zu haben. Sie sehnte sich schon immer nach Freiheit, nun wollte sie nur noch raus. Die Liebesheirat mit einem Studenten aus Ecuador ermöglichte ihr schließlich im Jahre 1969 mit 21 Jahren die Ausreise aus der DDR. Das Paar ließ sich im hessischen Hanau nieder, die Ehe zerbrach aber schnell.
Sie hatte dann glückliche und unglückliche Phasen. Nie einen Beruf gelernt, aber immer wieder gute Jobs bekommen. Sie hat die Welt gesehen, den Strand von Rio de Janeiro, davon hatte sie geträumt. Das als Mädchen und Jugendliche erlittene Leid habe ihr gesamtes Leben beeinflusst, sagt sie. Immer wieder plagten sie Depressionen, Schlafstörungen und Bluthochdruck. "Als ich 1992 erfuhr, dass ich in den Stasi-Akten als Spitzel geführt wurde, ist die Welt zusammengebrochen."
Es begann ein langer und schließlich erfolgreicher Kampf um Rehabilitation und Entschädigung. Regina Herrmann trat als Zeitzeugin auf, fand so Gleichgesinnte im Ringen um späte Gerechtigkeit. "Endlich über die Vergangenheit reden zu können, war eine Befreiung", sagt die in Frankfurt am Main Lebende.
Erst eine Änderung des Verwaltungsrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes Ende 2019 bescherte ihr jetzt als Opfer von "Zersetzung" einmalig 1500 Euro. "Wenig, aber die Anerkennung meines Leids. Ich fühle mich als Gewinnerin", sagt sie. Ein weiterer Antrag läuft noch. Das novellierte Gesetz sieht auch Entschädigungen für Menschen vor, die als Schüler vom SED-Regime um Entwicklungschancen gebracht wurden. Regina Herrmann ist hier zuversichtlich, eine kleine monatliche Rente zu bekommen.

Psychoterror bis in die persönlichsten Beziehungen

Die Zersetzung war eine vom Ministerium für Staatssicherheit (MfS) der DDR eingesetzte geheimpolizeiliche Arbeitstechnik. Sie diente zur Bekämpfung vermeintlicher und tatsächlicher politischer Gegner. Als repressive Verfolgungspraxis bestanden die Zersetzungsmethoden aus umfangreichen, heimlichen Steuerungs- und Manipulationsfunktionen und subtilen Formen ausgeklügelten Psychoterrors bis in die persönlichsten Beziehungen der Opfer hinein. Die Stasi griff dabei auf das Netz an "Inoffiziellen Mitarbeitern" (IM), staatliche Einflussmöglichkeiten auf alle Arten von Institutionen sowie die "Operative Psychologie" zurück. Durch gezielte Beeinträchtigung oder Schädigung versuchte das MfS, Menschen zu brechen. mat