Obwohl gerade gar kein Tor gefallen ist, brandet am Sonntag in der Berliner Mercedes-Benz-Arena während des Eishockeyspiels großer Jubel auf. Der Applaus gilt den rund 200 „Helden des Alltags“ und ihren Familienangehörigen, die der Hauptsponsor Gasag gemeinsam mit dem aktuellen Deutschen Meister als Dankeschön für ihren Einsatz in der Silvesternacht zum Spitzenspiel eingeladen haben.
„Unser Respekt gilt Eurer Arbeit und Eurer Courage“, sagt der Arena-Sprecher ins Rund. „Wir freuen uns über Euren Besuch und sagen „Danke“ für Euren aufopferungsvollen Einsatz.“
Selbst die Gästefans aus Ingolstadt erheben sich klatschend von ihren Sitzen und sorgen gemeinsam mit den Berlinern für einen Gänsehaut-Moment. „Das ist schön, wenn man merkt, dass man doch Rückhalt in der Bevölkerung hat“, sagt Florian Hatwich gerührt.
Er und seine Kollegen von der Freiwilligen Feuerwehr Berlin-Schöneberg haben in der Silvesternacht zum Teil um ihr Leben gebangt, als sie durch einen fingierten Notruf in einen Hinterhalt gelockt worden waren. In der Herrmannstraße in Neukölln war nämlich kurz nach Mitternacht gar kein Brand zu löschen.
Mit fingiertem Anruf in den Hinterhalt gelockt
Stattdessen stürmten zwanzig bis dreißig vermummte Leute aus den umliegenden Hauseingängen auf Einsatzfahrzeug und Mannschaft zu. Zwei der Angreifer feuerten mit einer Schreckschusspistole aus drei Metern Entfernung auf die Windschutzscheibe, bis das Magazin leer war.
„Ich habe schon kurz überlegt, ob die Waffe vielleicht echt ist. Das fühlt sich nicht gut an, gerade wenn man Vater einer kleinen Tochter ist“, erinnert sich der 41-jährige Feuerwehrmann, der seit über 25 Jahren ehrenamtlich Brände löscht oder bei Starkregen Wasser aus überfluteten Kellern pumpt.
38 Übergriffe auf die Berliner Feuerwehr
In der Silvesternacht 2022 wurden in Berlin zwischen 19 und 6 Uhr insgesamt 1717 Einsätze gefahren. Dabei wurden 38 Übergriffe auf Feuerwehrleute und Fahrzeuge dokumentiert. 15 Einsatzkräfte wurden verletzt, eine so schwer, dass sie im Krankenhaus bleiben musste. Nach den Taten folgte ein Aufschrei durch die gesamte Republik. In Talkshows und im Berliner Wahlkampf waren die bürgerkriegsartigen Szenen in der deutschen Hauptstadt wochenlang Hauptthema.
Doch zwei Monate danach sind die hitzigen Debatten auch schon wieder verpufft. Ab und zu lodert das Thema noch öffentlich auf, so wie beim Jugendgewaltgipfel in der vergangenen Woche. Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) zeigte sich nach dem Spitzentreffen der Verantwortlichen allerdings enttäuscht und kritisierte, dass Polizei und Feuerwehr zwar mit in der Runde saßen, ihre Bedürfnisse aber letztlich keine Berücksichtigung gefunden hätten.
„Die einzelnen Ergebnisse klingen teilweise sehr gut, gehen aber an der Realität vorbei und werden kaum umzusetzen sein“, befand GdP-Landeschef Stephan Weh. Es sei zwar schön, wenn man Jugendclubs länger offen halten möchte und viele Stellen für Sozialarbeitende schaffen wolle. „Aber Fakt ist, dass wir in den Bezirken schon jetzt eine hohe zweistellige Zahl an unbesetzten Stellen in genau den Bereichen haben.“
Beim Gipfel wurden unter anderem 350.000 Euro für Workshops mit Feuerwehr und anderen Trägern des Rettungsdienstes zugesichert, um an Schulen Respekt gegenüber den Einsatzkräften zu vermitteln. „In erster Linie bedeutet das, dass dann Kollegen dort ein paar Stunden etwas erzählen sollen. Diese fehlen uns dann im Dienst“, sagt auch Berlins GdP-Sprecher Benjamin Jendro.
Freiwillig 365 Tage in Bereitschaft
Die Berliner Berufsfeuerwehr ist jetzt schon chronisch überlastet, weshalb sie auch in der Innenstadt auf ehrenamtliche Hilfe angewiesen ist. Um die Kollegen zu unterstützen, rückte alleine das 20-köpfige Team der Freiwilligen Feuerwehr Schöneberg im vergangenen Jahr zu 261 Einsätzen aus, die insgesamt 588 Stunden dauerten. „Umgerechnet heißt das für jeden von uns zwölf Wochen Fulltime-Job neben dem eigentlichen Beruf“, rechnet Wehrchef Thomas Lottig vor.
Der 58-jährige Niederlassungsleiter eines Bahninfrastrukturunternehmens in Brandenburg ist für sein unbezahltes Ehrenamt wie seine Kollegen 365 Tage im Jahr 24 Stunden über ein Smartphone-Notrufsystem in Alarmbereitschaft, falls die deutsche Hauptstadt Ausnahmezustand ausrufen muss. Das ist regelmäßig auch bei Starkregen und schweren Stürmen nötig.
Planmäßiger Ausnahmezustand
„Zu Silvester ist aber immer planmäßiger Ausnahmezustand“, erklärt Lottig, der mit seiner Truppe während des Jahreswechsels von 14 bis 6 Uhr ohne Pause im Einsatz war und unter anderem einen schweren Dachstuhlbrand löschen musste. „Dass das Feuerwehrauto mal kurz nach 0 Uhr ein paar Böller abbekommt, daran ist man gewöhnt“, sagt der Mann, der seit 40 Jahren dabei ist.
Doch der Silvester 2022 hatte auch für ihn eine bislang unbekannte Dimension „Wir werden ja auch bei anderen Einsätzen angebrüllt, geschubst, bespuckt und geschlagen. Aber diese extreme Aggressivität habe ich so noch nicht erlebt.“
Dabei hätte sein Einsatzteam noch Glück. „Wie in einem amerikanischen Thriller haben wir geistesgegenwärtig die Türen verriegelt und von innen die Hände gegen die Fenster gedrückt, weil der vermummte Mob, der an den schwarzen Block am 1. Mai erinnerte, versuchte, die Scheiben einzuschlagen. Dazu versuchten die Täter, die Rollläden hochzuziehen und die Gerätefächer zu öffnen.
Damit weder das Fahrzeug geplündert, in Brand gesteckt oder die Kollegen angegriffen werden, blieb dem Wehrchef nicht mehr übrig als „Gib Gas“ zu rufen. „Ich weiß nicht, was passiert wäre, wenn wir vorher ausgestiegen wären, um die Lage zu checken, was bei Einsätzen eigentlich üblich ist.“
Beim Löschen behindert
Von Kollegen anderer Berliner Wachen weiß Lottig, dass Einsatzkräfte teilweise auch niedergeknüppelt wurden. Das habe auch dazu geführt, dass einige Mannschaften nur noch unter Polizeischutz – der in der Silvesternacht kaum mehr zu leisten war – zu Einsätzen in den Krawall-Hotspots wie Neukölln, Kreuzberg und Lichtenrade ausrücken wollten.
Anderswo seien Kollegen in der Arbeit behindert worden. „In Mariendorf haben Täter bei den Kollegen, die gerade einen großflächigen Kellerbrand löschten, die Schläuche zugedreht und die Hydranten abgekoppelt.“
Organisierte Feuerwerke und Jugendclub-Partys
Damit sich der Ausnahmezustand im Ausnahmezustand nicht wiederholt, berät sich die Berliner Feuerwehr derzeit mit Polizei, Ordnungs- und Jugendämtern. „Es geht darum, wie man sich zum kommenden Jahreswechsel neu aufstellen will, um eine Wiederholung zu verhindern“, sagt Feuerwehrsprecher Thomas Kirstein. Ein Konzept werde wohl allerdings erst im Herbst der Öffentlichkeit präsentiert.
Eine Idee ist, dass die Jugendclubs in den Berliner Problemvierteln eigene Silvesterpartys und organisierte Feuerwerke anbieten. „Solche Alternativangebote haben vor ein paar Jahren am 1. Mai sehr gut funktioniert“, erklärt Kirstein. Damals seien die Neuköllner Kids, die auch gerne in der Oranienstraße Steine werfen, gar nicht erst nach Kreuzberg gefahren.
Zusätzliche Stellen für Strafverfolgung
Für eine konsequente Strafverfolgung wurden bei dem Jugendgewaltgipfel sieben zusätzliche Stellen bei der Staatsanwaltschaft angekündigt. „Wir hätten uns aber auch Finanzmittel für flächendeckende Bodycams sowie Zivilfahrzeuge gewünscht“, betont Jendro von der Polizeigewerkschaft, die auch für die Feuerwehr zuständig ist. „Erstere haben einen präventiven Charakter, sorgen aber eben auch für Beweismittel.“
Wehrchef Lottig hatte nach der anstrengenden wie nervenzehrenden Silvesternacht noch viel zusätzliche Arbeit in seiner Freizeit zu erledigen. „Ich musste Anzeigen und Berichte schreiben und Zeugenaussagen auf der Polizeiwache machen“. Dass das alles was bringt, glaubt der Wehr-Chef aber nicht. Schon zu oft hatten er und seine Kollegen nach Attacken Schreiben mit dem Hinweis „Verfahren eingestellt“ im Briefkasten.
Polizeischutz für Feuerwehren
Ein flächendeckendes Böllerverbot in Berlin würde der Feuerwehrmann, der selbst im Umland in Brandenburg lebt, persönlich aber nicht fordern. Das Konzept der Stadt Hannover, nach dem Einsatzfahrzeuge der Feuerwehr jeweils von einem Polizeiauto begleitet werden, findet er sinnvoller. „Ich weiß aber auch, dass das bei der Personalsituation in Berlin leider unrealistisch ist.“
Trotz aller Missstände und beängstigenden Geschehnisse wollen Thomas Lottig, Florian Hatwich und ihre Schöneberger Kollegen ihr gefährliches Ehrenamt fortführen. Ein bisschen Mut machte ihnen vielleicht auch die Eisbären-Einladung und die Reaktionen des Publikums. „Das war schon eine schöne Geste und ein cooler Abend“, sagt Lottig.
Doch er kennt auch Kollegen, die weniger von der Stadtgesellschaft, sondern nun vielmehr etwas von der Politik erwarten. „Die sagen, wenn die jetzt nicht endlich handelt, dann sind wir auch nicht mehr bereit, unser Leben in der Silvesternacht zu riskieren.“