Als Ilkay Gündoğan in der 34. Spielminute das 1:0 gegen Japan im Netz versenkt, ist sie doch wieder kurzeitig da, die Jubel-Atmosphäre, die beim gemeinsamen Fußballschauen für Gänsehaut sorgt. Im Alt-Berliner-Biersalon am Kurfürstendamm, mit seinen 800 Plätzen, 16 Monitoren und sechs Leinwänden größte Fußball-Kneipe der Hauptstadt, haben sich am Mittwoch (23. November) zur ersten Partie der deutschen Mannschaft rund 100 Fußballfans eingefunden.
„Die meisten müssen noch arbeiten, und ohne Bier macht es nur halb so viel Spaß“, sagt Chef Thorsten Brix. „Die meisten Fans werden sich eher auf das deutsche Spiel am Sonntag gegen Spanien konzentrieren“, vermutet der 32-jährige Wirt.

Public Viewing in der verlängerten Mittagspause

Micha hat sich selbst und seinen Mitarbeiterinnen einfach um 14 Uhr freigegeben. „Wir sind Fußball-verrückt und müssen einfach gucken“, sagt der Chef eines Massage-Salons in Charlottenburg. Für die verlängerte „Mittagspause“ im Biersalon sind er und seine Mitarbeiterinnen zum Teil in Deutschland-Trikots geschlüpft.
„Viele unserer Freunde, die sonst ebenfalls Fußball-verrückt sind, schauen diese WM nicht, obwohl selbst ein paar Budenbesitzer auf dem Weihnachtsmarkt Bildschirme aufgebaut haben“, berichtet der 33-Jährige.
Willi Paschmann, der etwas abseits vom Leinwand-Getümmel vorne alleine am Tresen sitzt, muss sich nicht mehr freinehmen. Der Rentner hat als Siemens-Ingenieur selbst in vielen arabischen Ländern, unter anderem in Katar, gearbeitet. „Natürlich weiß man, dass die WM gekauft sein könnte. Doch was hat das für den Fußballfan mit dem eigentlichen Fußball zu tun? Ich zumindest hoffe, dass die Spiele selbst nicht gekauft sind“, sagt der 75-Jährige.
Den hiesigen „Hype um die Verteidigung der Menschenrechte“ empfinde er zum Teil als „Heuchelei“, sagt Paschmann. „Die Leute sollten sich dann auch mal die Bedingungen für rumänische Gastarbeiter in deutschen Fleischfabriken anschauen.“

Viele Kneipen bleiben zu

Die vielen Diskussionen um das Gastgeber-Land und die ungünstigen Spielzeiten haben dafür gesorgt, dass es selbst im quirligen Berlin in diesem Jahr besonders trist aussieht mit dem Public Viewing. Die meisten einschlägigen Fußball-Kneipen öffnen weiterhin erst am späten Nachmittag, wenn schon die Hälfte der Spiele abgepfiffen ist.
Manche bleiben aus Protest an manchen Spieltagen sogar gleich ganz geschlossen. „Kein Bock auf Qatar“, heißt es auf der Internetseite der „Astra Stube“ in Neukölln am ersten Spieltag. Am Mittwoch gab es statt des Deutschland-Spiels eine Diskussionsrunde zum Thema Frauenfußball, abends wurde die Womens Champions League übertragen. Dazu wurde ein „Korruptionspils“ ausgeschenkt. „Lass Dich vom würzigen Geschmack bestechen wie ein Fifa-Funktionär“, werben die Wirte. 50 Cent von jedem großen Bier gingen in einen Fonds für Arbeitsmigranten im Mittleren Osten.

Boykottstimmung zur WM

„Es herrscht eine Art Boykottstimmung. Oder besser gesagt ein Mitläufer-Boykott“, sagt Annette Sassolli, die gemeinsam mit ihrem Mann das „Fränky's“ in Wilmersdorf betreibt. Als sie am Dienstag um elf Uhr den Laden öffnete und Saudi-Arabien einen Sensations-Sieg über den WM-Favoriten Argentinien feierte, saß sie alleine vor dem TV.
„Die WM wurde doch schon vor zwölf Jahren vergeben. Da hätte man doch schon was gegen den Austragungsort machen können und nicht erst vier Tage, bevor die Fußballer in den Flieger steigen“, ärgert sich die Wirtin, die nur zum Deutschland-Spiel Tisch-Reservierungen verzeichnete.

Weihnachtsdeko statt Fußball-Fahnen

Zu der Ablehnung der Fans gegen die WM in einem Land, in dem teilweise Menschenrechte missachtet werden, komme noch die Kälte und die ungünstigen Anstoßzeiten. „Wer soll denn auch um 11 Uhr Zeit haben ein Spiel zu schauen, außer vielleicht Rentner. Dazu gehört Public Viewing in den Sommer“, findet Sassolli, die mit ihrem Team sonst immer mehrere Bildschirme auf die Terrasse stellt.
In diesem Jahr haben sie und ihr Mann aber auch im Inneren der Alt-Berliner Kneipe auf die typischen WM-Fähnchen verzichtet und setzen stattdessen lieber auf Adventsstimmung. „Es geht eben nur eines: Fußball- oder Weihnachtsdeko.“
Ein Mexikanischer Mini-Pizza-Laden in der Winterfeldtstraße in Berlin-Schöneberg ist mit WM-Fähnchen geschmückt. Der Peruanische Besitzer hat zur WM-Extra einen großen Fernseher aufgehängt. Doch das Spiel Dänemark-Mexiko schaute er am Dienstagabend mit seiner Familie so gut wie alleine.
Ein Mexikanischer Mini-Pizza-Laden in der Winterfeldtstraße in Berlin-Schöneberg ist mit WM-Fähnchen geschmückt. Der Peruanische Besitzer hat zur WM-Extra einen großen Fernseher aufgehängt. Doch das Spiel Dänemark-Mexiko schaute er am Dienstagabend mit seiner Familie so gut wie alleine.
© Foto: Maria Neuendorff
Auch im Kick Inn in Schöneweide ist man enttäuscht vom WM-Start. Die Kneipe hat rund um die Uhr geöffnet, zeigt alle WM-Partien. Selbst zum Eröffnungsspiel am späten Sonntagnachmittag blieb der Laden leer. „Wir hatten gerade mal einen Gast“, berichtet Miro. Sein Bruder, der den Laden betreibt, habe extra noch einen neuen großen Fernseher angeschafft. „Sonst war es immer voll, diesmal ist alles Sch….“, lässt der Barmann seinem Frust freien Lauf.
Auch im „Blue Label“ in Prenzlauer Berg, in dem zum Public Viewing Thüringer Spezialitäten serviert werden, ist es bei dieser WM leerer als sonst. Die Tische sind während der Fußball-Spiele nur spärlich besetzt. „Für Fußball-WM-Zeiten ist das sehr mau“, findet Frank, der gleich um die Ecke wohnt und seit Jahren Stammgast ist. In einem Satz versucht der Fußballfan die Stimmung in Berlins Kneipen in diesem Jahr zu umschreiben: „Stell dir vor, es ist WM, und keiner schaut hin.“
Im „Fränky's“ in Berlin-Wilmersdorf wurde es zum ersten Deutschland-WM-Spiel am Mittwochnachmittag dann doch voll.
Im „Fränky's“ in Berlin-Wilmersdorf wurde es zum ersten Deutschland-WM-Spiel am Mittwochnachmittag dann doch voll.
© Foto: Marc Liebscher
Auch zum nervenzerreißenden Deutschland-Spiel am Mittwoch bleibt Frank mit dem Wirt und einem weiteren Gast alleine. Im Fränky's in Wilmersdorf dagegen sind nach Anpfiff dann doch so gut wie alle Tische besetzt. Die Stimmung ist zwar nicht euphorisch, aber gut - bis Japan das Spiel in der zweiten Halbzeit noch zu einem 2:1 für sich dreht (Partnerportal swp.de). „Hol die Binde raus“, rufen die Fans, als Manuel Neuer in der Nachspielzeit mit in den gegnerischen Strafraum stürmt, um in letzter Sekunde noch den Ausgleich zu versuchen. Vergebens.
Im Biersalon, der zu großen Teilen von Touristen lebt, jubeln nun ein paar Japaner. Micha aus Charlottenburg ist ein bisschen enttäuscht von der Niederlage der Deutschen Mannschaft. Er will trotzdem weiter so viele WM-Partien schauen, wie es geht. Er hofft, dass sich die Stimmung in den Kneipen spätestens zu den KO-Spiele ab dem Achtelfinale noch ändern wird. „Aber nun müssen wir erst einmal hoffen, dass Deutschland weiterkommt.“