Die Scheiben sind zerschlagen, die Fenster und Eingänge mit Sperrholz verbarrikadiert: In den ehemaligen Arbeiterhäusern des VEB Elektrokohle Lichtenberg wird schon lange nicht mehr gewohnt, sie wirken nach langem Verfall und Vandalismus inzwischen auch unbewohnbar. Nach mehr als 20 Jahren Leerstand sollen die Häuser an der Herzbergstraße 125-126A direkt neben dem „Dong Xuan Center“ nun ein zweites Leben bekommen.
Unter dem Motto „Aus alt mach grün“ will ein privater Investor die Häuser nach eigenen Angaben ertüchtigen, behutsam entkernen und das Erdgeschoss zur Straße und dem Hof öffnen. „In unserem neuesten Projekt in der Herzbergstraße sehen wir viel Potenzial bei der Neupositionierung des gesamten Grundstücks“, erklärt Sebastian Blecke, Chef von Sector7.

Preiswerte Mieten für Kunst und Gewerbe

Die Berliner Investorengesellschaft hat sich zur Aufgabe gemacht, ungenutzte Gebäude und Areale umzumodeln. Unter anderem entwickeln die Fachplaner gerade unter dem Namen „Collaboration Village“ für rund 300 Millionen Euro ein „Urbanes Dorf“ im Windschatten des Flughafens BER für Bildung, Forschung, Technologie und Wirtschaft.
Im Industriegebiet in Lichtenberg sollen dagegen vor allem Gewerbeflächen mit rund 10.000 Quadratmetern Bruttogeschossfläche vor allem für die Kunst- und Kreativszene entstehen. „Aufgrund des lokalen Marktumfeldes und des Preisdrucks werden sich die Mieten eher im preisgünstigen Segment bewegen“, erklärt ein Sprecher auf Nachfrage.
Es werde allerdings keine neuen Wohnungen geben. Die Baugenehmigung, die schon vorliegt, sehe eine rein gewerbliche Nutzung vor, heißt es. Allerding gebe es die Möglichkeit, einen Teil der Gebäude für ein Beherbergungskonzept für nicht-touristische Zwecke zu nutzen, erläutert der Sprecher.
Ein Hotel ist auch in den denkmalgeschützten Klinkerbau des ehemaligen Verwaltungsgebäudes des VEB Elektrokohle eingezogen. Ansonsten kann man sich schönes Wohnen in dem Lichtenberger Industriegebiet auch schwer vorstellen, das derzeit vor allem von dem Dong-Xuan-Center beherrscht wird.

Asiamarkt auf 165.000 Quadratmetern

Der größte asiatische Großhandelsmarkt Westeuropas breitet sich mit seinen 400 Händlern und Unternehmen auf 165.000 Quadratmetern aus. Hinter den sechs großen, langegezogenen Flachbauhallen, in denen Touristen aus aller Welt genauso wie Einheimische nach billigen Klamotten, Elektronik, Ramsch und Kitsch stöbern und in denen man auch authentisch vietnamesisch essen oder sich die Haare schneiden lassen kann, breiten sich weitere riesige Lagerhallen aus.
Blick zum Eingang des Dong Xuan Centers. Der Asia-Großmarkt an der Herzbergstraße in Berlin-Lichtenberg wurde 2005 von einem mit der Wende arbeitslos gewordenen vietnamesischen Vertragsarbeiter eröffnet und zieht heute tausende Berliner und Touristen auf das Gelände des ehemaligen VEB Elektrokohle.
Blick zum Eingang des Dong Xuan Centers. Der Asia-Großmarkt an der Herzbergstraße in Berlin-Lichtenberg wurde 2005 von einem mit der Wende arbeitslos gewordenen vietnamesischen Vertragsarbeiter eröffnet und zieht heute tausende Berliner und Touristen auf das Gelände des ehemaligen VEB Elektrokohle.
© Foto: Maria Neuendorff
Die weitläufige Industriebrache ist teilweise auch mit Beton versiegelt, um zu verhindern, dass die Chemikalien, die hier in der DDR für die Produktion benutzt wurden, ins Grundwasser durchsickern.
Schon Ende des 19. Jahrhunderts stellte Siemens & Halske hier Alkohol-Messapparaturen, Beleuchtungskohle und später Siliziumkarbid-Heizstäbe her. Für den Transport der Produkte auf dem damals schon ausgedehnten Werksgelände wurde durch die gesamte Herzbergstraße eine Industriebahn verlegt, die einen Anschluss zum damaligen Güterbahnhof Lichtenberg hatte.
Während des Ersten Weltkrieges fertigte Siemens & Co. auf dem Gelände Großkohleerzeugnisse. Auch im Zweiten Weltkrieg wurden dort kriegswichtige Kohleprodukte hergestellt. In den letzten Jahren vor 1945 ließ die Konzernleitung zusätzlich Zwangsarbeiter aus mehr als acht Nationen und Kinder zwischen 9 und 14 Jahren in der Fabrik schuften.

Einzige Hersteller für Graphit in der DDR

1954 wurde aus „Siemens-Plania“ der volkseigene Betrieb Elektrokohle Lichtenberg. Er war der einzige Hersteller für Graphit in der DDR, einem Mineral aus Kohlenstoff, mit dem unter anderem Bleistiftminen hergestellt werden. Zeitweise arbeiteten in dem Werk über 3000 Mitarbeiter.
Ein Arbeiter im VEB Elektrokohle 1987 in Berlin-Lichtenberg. Das Bild des 2022 verstorbenen Fotografen Micha Winkler wurde 2017 in dessen Ausstellungs-Serie "Arbeits­wel­ten" gezeigt, die betrieb­li­che All­tags­si­tua­tio­nen in der DDR beleuchtet.
Ein Arbeiter im VEB Elektrokohle 1987 in Berlin-Lichtenberg. Das Bild des 2022 verstorbenen Fotografen Micha Winkler wurde 2017 in dessen Ausstellungs-Serie „Arbeits­wel­ten“ gezeigt, die betrieb­li­che All­tags­si­tua­tio­nen in der DDR beleuchtet.
© Foto: Micha Winkler
Nach der Wende übernahm kurz eine amerikanische Firma, gab aber schnell wieder auf. 1993 wurde der 200 Meter hohe Kamin – nach dem Fernsehturm und dem Sendemast in Köpenick das dritthöchste technische Bauwerk im einstigen Ost-Berlin – mithilfe eines Spezialbaggers abgerissen.
Doch zwei über 45 Meter hohe rechteckige Industrie-Türme stehen noch heute im hinteren Teil des Geländes, unsaniert und ungenutzt, von Auto- und Schrotthändlern umgeben.
Die ehemaligen Fabriktürme auf dem Gelände des Industriegebiets Herzbergstraße in Berlin-Lichtenberg sind 45 Meter hoch.
Die ehemaligen Fabriktürme auf dem Gelände des Industriegebiets Herzbergstraße in Berlin-Lichtenberg sind 45 Meter hoch.
© Foto: Maria Neuendorff
Schon seit Jahren gibt es Bestrebungen von Künstlern, sich das Industrieareal zu erobern. Den aufsehenerregenden Anfang setzte Ende 1989 die Westberliner Kultband „Einstürzende Neubauten“. Für ihren ersten Auftritt in Ostberlin suchte sich die Band das zweistöckige Kulturhaus des VEB Elektrokohle aus. Dramatiker Heiner Müller brachte zum Konzert den damaligen französischen Kulturminister Jack Lang mit.
Ein paar Schritte weiter Richtung Osten, kurz vor der Siegfriedstraße steht auch noch das 1909 gegründete „Margarinewerk Berolina“. Das denkmalgeschützte Gebäude hat sich in den vergangenen Jahren in die „Kunstfabrik HB55“ mit Werkstätten, Ateliers und Ausstellungsräumen verwandelt.

Ausstellungen in der alten Gießerei

Auch in der „Alten Gießerei“ an der Herzbergstraße 123, gleich hinter den heruntergekommenen VEB-Arbeiterwohnungen, fanden schon Ausstellungen und Jazzkonzerte statt. In der ehemaligen Fahrbereitschaft des DDR-Ministerrates gegenüber dem Dong-Xuan-Center werden schon seit 2005 teils international beachtete Ausstellungen gezeigt. Das Ehepaar Barbara und Axel Haubrok, denen der Ex-Fuhrpark des Zentralkomitees der SED gehört, ist auf zeitgenössische Konzeptkunst spezialisiert. Die Sammlung Haubrok zählt zu den wichtigsten ihrer Art in Deutschland.
Die Familie hat dafür das historische Gebäude denkmalgerecht restauriert und ebenfalls einige Räume an Künstler und Gewerbetreibende zu günstigen Konditionen vermietet. Ein moderner Anbau wurde vom Bezirk allerdings untersagt.
Die Entwickler von Sector7 wollen dagegen nicht anbauen, sondern einen draufsetzen. Dazu sollen die Arbeiterwohnhäuser mit ihren drei Obergeschossen aufgestockt werden. „Diese Möglichkeit gibt es grundsätzlich“, so der Sprecher. Ein Termin für den Baustart könne allerdings noch nicht genannt werden.