Ein Dorf im Kreis Butscha nordöstlich von Kiew, das einer Schuttwüste gleich: Eine alte Frau mit blumigem Kopftuch drückt Wilma Peters ein Glas selbstgemachte Himbeermarmelade in die Hand. Dabei ist eigentlich Peters diejenige, die hier helfen, die geben will.
Die Wahl-Ostbrandenburgerin Peters und ihre Mithelfer Anja aus Berlin, Professor Naumenko aus Kiew und Ramesch, der für den Scheich der Arabischen Emirate arbeitet, schnappen sich Wasserflaschen und Essenstüten aus dem Kleintransporter: Nudeln, Öl, Tomatensauce – Fertigkonserven, die man nicht unbedingt kochen muss, falls die Küche ausgebombt ist oder Strom fehlt, Milch, Knäckebrot, Kekse und Paracetamol, für alle Fälle. Schmerz gibt es in Moschtschun genug.
Was eine Frau im Kellerversteck durchmachte
Rund zwei Drittel der Häuser, Garagen, Autos und Gärten liegen nach fünf Wochen russischer Besatzung und Gefechten in Trümmern. Rajisa, die alte Frau, hatte Glück. Ihr kleines Haus blieb erhalten, irgendwie überlebten sogar die Schweine im Stall. Und auch sie selbst, vor Schrecken erlitt sie einen Herzinfarkt. Mit ihren Kindern und Enkelkindern hätte sie sich tagelang im Vorratskeller verschanzt, bevor sie, wie die meisten Dorfbewohner, die Flucht ergreifen konnten. Den Kellerraum von wenigen Quadratmetern will Rajisa den Besuchern unbedingt zeigen: „Zu dreizehnt saßen wir da, Tag und Nacht“, erzählt sie auf Ukrainisch. Und die kleine Katjiuscha habe nicht mal geweint, erzählt die Frau, selbst mit den Tränen ringend.
Wilma Peters macht Fotos und Videos mit ihrem Telefon. Rajissa ist eine der letzten Stationen, die der Hilfskonvoi an diesem Tag versorgt. An Dutzende Anwohner, viele Ältere sowie Familien mit Kindern, hat die Gruppe ihre praktischen Not-Rationen übergeben. Viele von ihnen hausen zwischen Trümmern in oder neben ihren ausgebrannten Häusern. Peters ist fassungslos und glücklich zugleich, dass sie so unmittelbar helfen kann. Und dass sie hier versteht, was nützlich ist: zum Beispiel die am Vortag stundenlang gepackten Tüten mit Essen. „Es kommt WIRKLICH alles an“, schreibt sie später zu den Bildern auf Facebook und Instagram. Die Bilder der Reise sind wichtig, um Spender nach nun schon drei Monaten Krieg bei Laune zu halten.
Erstes Treffen nach drei Monaten Krieg
„Ukraine Border Collective“ nennt sich die internationale Graswurzel-Initiative, die Hilfsgüter in drei Etappen über Frankfurt (Oder), die ostpolnische Grenzstadt Chełm und Kiew in verschiedene Orte der Ukraine schafft. Ihre Prinzipien: direkt Menschen helfen, keine Verwaltungskosten, maximale Transparenz. Ende Mai treffen sie sich in der ukrainischen Hauptstadt alle zum ersten Mal persönlich, nach wochenlanger Chat-Kommunikation. Gleichzeitig ist es für die Deutschen, Polen und für den neuen Mitstreiter aus Abu Dhabi auch die erste Reise zu den Empfängern der Spenden.
In Ostbrandenburg haben sich in den ersten Kriegstagen Handwerksmeister Sven van Dyk, die Pflegedienstbetreiberin Boba Bojčić Preuß, die Landschaftsgärtnerei Scheffler mit Lagerhalle und Wilma Peters, Tour-Managerin für Hiphop-Bands, zusammengetan. Zu vielen weiteren Helfern, die Zeit und Ressourcen einbringen, gehört auch ein Geschäftsmann aus Thüringen. Allein 50.000 Euro an Geldspenden hat das Kollektiv bisher in Medizinbedarf, Arznei- und Lebensmittel umgesetzt und in die Ukraine gebracht. „Aber das ist nur der kleinere Teil, das meiste sind Sachspenden: Krankentragen, Sauerstoffgeräte, ein Lkw voll Wasser, Windeln, OP-Material, auch ein ganzer Krankenwagen“, zählt Wilma Peters auf.
IT-Unternehmer und ein Chirurg empfangen ihre Unterstützer
In Chełm ist Maciej Chybiak der Mann des Kollektiv-Vertrauens, ein Macher und Heißsporn, der über eine Fabrikhalle als Spendenlager sowie einen guten Kontakt nach Kiew verfügt. Zu Michail Schejko, einem drahtigen Mittdreißiger und IT-Unternehmer, der gern für sein Land kämpfen würde, aber zumindest für die ersten Mobilisierungsstufen als wehruntauglich eingestuft wurde – wegen Rückenleiden und Unverträglichkeiten. Also organisiert er humanitäre Hilfe, zusammen mit Angestellten seiner Firma. Und mit Professor Oleksandr Naumenko, Prorektor und Chirurg der Kiewer Medizinischen Universität, für die Schejkos Firma arbeitet. Frauen und Kinder der beiden haben Kiew aus Sicherheitsgründen verlassen.
Bilder und Videos als Belege, wohin die Spenden kommen
Seit Kriegsbeginn wohne er quasi in der Uni, sagt der Professor. Er koordiniert von dort die Versorgung für Kliniken in Kiew und anderen Landesteilen, die funktioniere vor allem dank international gespendetem Medizinbedarf auch vom „Border Collective“. Naumenko schreibt Listen mit benötigtem Material und Arznei, Schejko reicht sie an Peters weiter. Er und der Professor organisieren auch praktisch Hilfe vor Ort. Schon am zweiten Tag nach der Befreiung von Butscha verteilten sie dort persönlich Lebensmittel, Hygieneprodukte, Schmerz- und Fiebermittel. Peters bekam damals, wie immer, sofort von Schejko Bilder und Videos zugeschickt. Was sie sehr schätzt.
Professor: Geht um unsere Existenz!
Nun treffen sich alle in Kiew, wo zwar zeitweise Sirenen heulen, aber die Kämpfe weit weg sind. Als der Professor die Gruppe zur Begrüßung durch seine Uni führt, betont er leise in Richtung der anwesenden Deutschen: Die Ukraine brauche Waffen. „Wir kämpfen hier nicht um Territorien, sondern um unsere Existenz. Gewinnen werden wir, aber es zählt jeder Tag.“
Wilma Peters wusste bisher fast nichts über die Ukraine, aber jetzt steht sie klar auf ihrer Seite, sagt sie. Maciej Chybiaks Vorfahren waren im Wolhynien-Massaker durch ukrainische Nationalisten getötet worden. Aber darüber will er nicht sprechen. „Die Ukrainer brauchen jetzt einfach unsere Hilfe“, sagt er.
Schaffner überredet, Hilfsgüter im Zugabteil gestapelt
Für das Kollektiv ist es der 13. Hilfskonvoi. Und es gibt ein echtes Problem: Der Benzinmangel wirft die Logistik über den Haufen. Kraftstoff ist extrem teuer, die Abgabe auf zehn Liter pro Kauf reduziert – wenn man überhaupt welchen bekommt. Viele Rollstühle, Rollatoren, Spritzen, Hygienebedarf, die das Kollektiv zuletzt nach Polen hatte, mussten im 600 Kilometer entfernten Chełm bleiben. Nur zwei Zugabteile halbvoll mit Nudeln, Konserven und Erste-Hilfe-Kästen konnten sie nach Kiew mit bringen. Weil Chybiak in letzter Minute zwei Schaffner überredete, ihre eigenen Abteile zu räumen. Und nun?
„Vielleicht können wir einen Güterwaggon bei der ukrainischen Bahn chartern?“, überlegen Schejko und Chybiak. Ein Anruf und es stellt sich heraus: sehr teuer für Privatpersonen, kostenlos nur für die Armee. Und riskant, weil Güterzüge potenzielle Angriffsziele sind.
Staatliche Güterwaggon-Ladungen gehen an Militärverwaltung
Zwei Kiewer Stadtverordnete melden sich bei Schejko, sie hätten von seinem Problem gehört und wollten sich treffen. Die beiden koordinieren selbst Hilfsstrukturen, erklären, wie sie Verletzte in Lazaretten versorgen. Einer ist Soldat, sitzt in Uniform im Café. Ihr Vorschlag: Unsere Fahrer machen den Transport aus Chełm, und ihr überlasst uns die Hilfsgüter, komplett.
Schejko beäugt die beiden kritisch – auch weil sie Politiker sind. Dann wollen sie auch noch ein gemeinsames Foto machen. Peters und Chybiak wollen, dass die Spenden zu den Menschen gehen, die um sie baten und denen sie vertrauen. Schließlich wird im Bereich humanitärer Hilfe genug Schindluder getrieben. Im Westen der Ukraine wurde ein Bürgermeister verhaftet, weil er Hilfsgüter verkauft hatte.
Jeden Tag ein paar Paletten Konserven mit dem Nachtzug nach Kiew
So bleibt es erst einmal beim Provisorium. Chybiak und sein Team laden nach der Rückkehr nach Chełm jeden Tag portionsweise Nudeln und Tomatensauce in den Nachtzug nach Kiew, abhängig davon, welche Schaffner im Dienst sind. Die Kanister mit Benzin, die Chybiak abgefüllt hat, nehmen sie allerdings nicht mit, wegen Brandgefahr. Wenn der Zug dann am Morgen in Kiew einfährt, holen Schejko und seine Kollegen die Spenden am Bahnhof ab, um neue Notrationen für die Menschen in den zerstörten Gegenden zu packen, wo Lebensmittel knapp und teuer sind.
Für die zwar leichten, aber großen Kartons mit Medizinbedarf braucht es jedoch eine andere Lösung. Gestaffelter Transport über ein Zwischenlager in Lwiw? Oder doch einen Waggon chartern – mithilfe des Warschauer Rathauses, mit dem Chybiak telefonierte?
Mitarbeiter des Scheichs besorgt israelische Druckbandagen
Noch in Kiew lösen sich derweil andere Probleme: Nur mit israelischen Druckbandagen ließen sich bei Verletzten Blutfluss wirksam stoppen, lässt sich Peters von Professor Naumenko erklären. Aber die sind kaum zu kriegen. Den entscheidenden Kontakt direkt zum Hersteller aber findet Ramesch, der Mann aus Abu Dhabi: 400 Stück bestellt er gleich auf eigene Rechnung.
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Wilma Peters fährt mit vielen Bildern im Kopf und im Handy sowie einer neuen Bedarfsliste nach Frankfurt (Oder) zurück: Schilddrüsenmedikamente, Augentropfen, Peha-Haftbinden, Babynahrung, Windeln, Hunde- und Katzenfutter. Und fertig gepackte Essens-Rationen – wie sie in Sozialen Medien erklärt. Die kann man auch selbst packen und dem Kollektiv für den nächsten Hilfstransport mitgeben.
Mehr Informationen zum Krieg in der Ukraine gibt es auf einer Themenseite und im Liveticker.
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