Am 24. Juni 2023 blickte die Welt einen ganzen Tag lang gebannt nach Russland, wo ein Söldner-Führer den Aufstand gegen Staatschef Wladimir Putin organisierte. Professor Jan Claas Behrends, Historiker und Osteuropa-Experte an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder), ordnet das Ereignis mit etwas Abstand ein und wagt einen Ausblick.

Herr Professor Behrends, der Putschversuch ist jetzt zehn Tage her. Hat sich der Nebel gelichtet? Was sehen Sie?

Jan Claas Behrends: Der Nebel hat sich nur teilweise verzogen. Wir kennen immer noch nicht die genaue Motivation und das Ziel der Wagner-Leute und ihres Anführers Prigoschin, und wir wissen nicht im Detail, wie der Deal aussieht, den beide Seiten offenbar miteinander geschlossen haben.

Was wissen wir?

Dass es eine Erschütterung des Regimes in Russland gegeben hat, 36 Stunden, in denen die Dinge aus dem Ruder gelaufen sind, in denen Putin Schwäche gezeigt hat.

Es gab nur wenige Loyalitätsbekundungen für Putin

Es war viel davon die Rede, wer jetzt loyal zu Putin ist und wer lieber schweigt. Wie fällt Ihr Fazit aus?

Es war während des Putschversuchs zu erkennen, dass es aus der Führungsschicht nur wenige Loyalitätsbekundungen für Putin gab. Niemand hat versucht, die Wagner-Truppen am Boden aufzuhalten. Wenn wir den Nachrichten aus Moskau Glauben schenken dürfen, dann hatten Teile der Elite mit ihren Flugzeugen bereits die Hauptstadt verlassen. Das ist nicht komplett bestätigt. Aber wir können davon ausgehen, dass man zeitweise nicht darauf vertraut hat, dass Putin die Dinge wieder unter Kontrolle bekommt.

Jewgeni Prigoschin, Chef der Söldnertruppe Wagner, bei einer Videoansprache.
Jewgeni Prigoschin, Chef der Söldnertruppe Wagner, bei einer Videoansprache.
© Foto: dpa

Gibt es gesicherte Erkenntnisse, wo sich zum Beispiel Jewgeni Prigoschin gerade aufhält?

Nein, es gibt nur die Daten der Wagner-Flugzeuge, die man nachvollziehen kann. Da ist auch eins nach Minsk in Belarus geflogen. Mehr wissen wir nicht.

Putin demonstriert jetzt Normalität, kümmert sich um den Tourismus in Dagestan. Was läuft da in der Propaganda-Maschine?

Ich glaube, es wird versucht, Putins Image wieder zu verbessern. Das war der Sinn der Reise nach Dagestan. Lange Zeit hat er nur aus seinen Residenzen regiert, aus dem Bunker, wie man in Russland auch sagt. Jetzt versucht er plötzlich, Volksnähe zu zeigen. Dass er dort ein Bad in der Menge genommen hat, ist sehr ungewöhnlich. Seit der Pandemie gab es sehr strenge Regelungen dazu, wer überhaupt zu ihm vorgelassen wird. Das führte dazu, dass er als distanziert und abwesend wahrgenommen wurde. Im Gegensatz zu Prigoschin, der einen Großteil des Ukraine-Krieges bei seinen Kämpfern verbrachte und damit erfolgreich ein Gegen-Image aufbaute. Nun sieht man den Versuch der Putin-Propaganda, gegenzusteuern. Inwieweit das jetzt noch erfolgreich ist, wissen wir nicht.

In einer ersten Rede an die Nation warf Wladimir Putin den Putschisten Verrat vor und kündigte ihre Bestrafung an.
In einer ersten Rede an die Nation warf Wladimir Putin den Putschisten Verrat vor und kündigte ihre Bestrafung an.
© Foto: dpa

Putin und die Eliten fürchten Prigoschin

Zur Person Prigoschin: Dass er ein Kriegsverbrecher und ein übler Schlächter ist, wissen wir. Welche Stellung hat er in Russland?

Der Kreis um Putin und die wirtschaftlichen Eliten fürchten eine Machtübernahme durch Prigoschin. Sie verabscheuen diesen Wüstling. Auf der anderen Seite ist er für seine eigenen Truppen und sogar für Teile der regulären Armee ein Kümmerer, der nicht so korrupt ist wie die Armeeführung. Einer breiteren Bevölkerung ist er erst jetzt durch den Putsch bekanntgeworden. Er war in den vergangenen Jahren niemand, der vorne im Rampenlicht stand. Doch jetzt zeigt sich: Im Unterschied zu Putin kann er zum Beispiel sehr gut mit sozialen Medien umgehen.

Über seinen Telegram-Kanal hat er Aussagen zu den Gründen für den Ukraine-Krieg verbreitet, die der herrschenden Lesart extrem widersprechen. Wurde das zum Beispiel im russischen Fernsehen aufgegriffen?

Nein, das wird totgeschwiegen. Prigoschin hat tatsächlich sämtliche Propagandalügen Putins widerlegt und gesagt, dass die Ukraine und die Nato gar keine Bedrohung für Russland darstellen.

Ein Kämpfer steht am 24. Juni 2023 auf einem gepanzerten Fahrzeug und bewacht einen Bereich in einer Straße. In Russland kam es an dem Tag zu einem bewaffneten Aufstand der Söldnergruppe Wagner.
Ein Kämpfer steht am 24. Juni 2023 auf einem gepanzerten Fahrzeug und bewacht einen Bereich in einer Straße. In Russland kam es an dem Tag zu einem bewaffneten Aufstand der Söldnergruppe Wagner.
© Foto: dpa

Als Osteuropa-Historiker haben Sie die Entwicklungen schon lange im Blick. Hat Sie der Putschversuch überrascht?

Ich habe schon Anfang des Jahres in einem Artikel geschrieben, dass diese Söldnergruppen für den Kreml zu einem Problem werden könnten. Weil die Geschichte zeigt, dass solche Truppen nur bedingt loyal sind. Das sind Soldaten, die für Geld kämpfen, nicht für einen Staat. Die können auch auf eigene Rechnung weitermachen oder die Seiten wechseln. Und sie können zu einem Staat im Staate werden. So erleben wir es bei Wagner, und das ist nicht die einzige Söldnertruppe in Russland. Wenn ein Staat sein Gewaltmonopol nicht mehr durchsetzen kann, wird es gefährlich.

Also ist es nicht unbedingt ein Zeichen der Schwäche des Systems an sich, dass es zum Putschversuch kam? Man hat lediglich den Fehler gemacht, diese Kriegsfürsten stark werden zu lassen?

Putin hat diese Söldnerarmeen selbst geschaffen. Zunächst für den Einsatz in Syrien, dann in Afrika, wo er bestreiten konnte, dass das Soldaten des russischen Staates sind. Das ist ihm jetzt aus dem Ruder gelaufen. Er kann seine Söldner nicht mehr kontrollieren.

Das Bild vom starken Mann ist in diesen 36 Stunden zusammengebrochen

Wie destabilisiert ist Putin dadurch?

Es war ein sehr harter Schlag für ihn, weil er vom Image des starken Mannes lebt, der keine Fehler macht und seinen Gegnern nicht verzeiht. Dieses Bild ist in diesen 36 Stunden zusammengebrochen. Er hat morgens davon gesprochen, dass er den Verräter Prigoschin bestrafen wird, doch abends musste er dem Deal mit Lukaschenko und Prigoschin zustimmen – und sah dabei schwach aus. Und er sah schwach aus, als die Wagner-Truppen 800 Kilometer in Richtung Moskau zogen, ohne auf starken Widerstand zu stoßen.

Wie geht es weiter?

Wir wissen nicht genau, welche Folgen diese Meuterei haben wird. Wenn man in die Geschichte zurückschaut, zum Beispiel ins Jahr 1991, dann ist der Putsch gegen Michael Gorbatschow damals im August gescheitert, aber vier Monate später existierte die Sowjetunion nicht mehr.

Wie Prigoschins Putsch die Bundesregierung überraschte
Russland und der Ukraine-Krieg
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Berlin

Für Putins Nervosität spricht seine Warnung vor einem Bürgerkrieg und sein Verweis auf 1917. Wieso hat er diesen Vergleich gezogen? War das clever?

Ich halte das für eine Panikreaktion. Ich glaube, da hat sich keiner getraut, das aus seiner Rede zu streichen. Wir wissen alle, wie 1917 ausgegangen ist, und jetzt hat er selber darauf angespielt. Ich sehe diesen historischen Vergleich als großen Fehler, er zeigt, wie dramatisch Putin die Lage einschätzte.

Im Zusammenhang mit diesen Ereignissen und dem Ukraine-Krieg wird auf das russische Imperium mit seiner 500-jährigen Gewalt-Geschichte verwiesen. Wie beurteilen Sie vor diesem Hintergrund die Lage im Land?

In Russland passiert innenpolitisch etwas, wenn es Kriege verliert. Das konnten wir schon im 19. Jahrhundert beim Krimkrieg sehen. Auf die Niederlage folgten die Großen Reformen. Nach der Niederlage gegen Japan 1905 wurde die Verfassung erlassen. 1917 führte die Niederlage im Ersten Weltkrieg in die Revolution. Und der Afghanistan-Krieg ab 1979 war ein Faktor, der zum Untergang der Sowjetunion beigetragen hat. Man kann also davon ausgehen: Wenn Putin den Ukraine-Krieg endgültig verliert, ist das ein gravierender Einschnitt.

Der Krieg in der Ukraine kann noch lange dauern

Es gab die Hoffnung, dass der Putschversuch die russische Armee ablenkt und der Ukraine ein Momentum verschafft. Ist das passiert?

Wir haben bisher keine spektakulären Veränderungen an der Front gesehen. Wenn wir ehrlich sind, kennen wir die Pläne der Ukrainer nicht und wir wissen wenig darüber, was sie erreichen wollen. Ich denke, dass hier Geduld gefragt ist. Es handelt sich um einen Krieg, der noch lange dauern kann. Das hat die Politik in Deutschland gerade erst verstanden.

Ihr Lehrstuhl an der Viadrina in Frankfurt (Oder) heißt „Demokratie und Diktatur“. Wie ist es für Sie, jetzt quasi live zu erleben, wie Geschichte geschrieben wird?

Wir sehen gerade, dass wir als Historiker oft mehr Fragen als Antworten haben. Zum Beispiel, wenn wir begründen sollen, warum die Ukraine 30 Jahre nach dem Ende der Sowjetunion eine mehr oder weniger gefestigte Demokratie ist, mit wechselnden Regierungen, und warum Belarus und Russland, die ähnliche Voraussetzungen hatten, sich in die diktatorische Richtung entwickelt haben. Das sind Fragestellungen, die uns am Lehrstuhl beschäftigen. Wir untersuchen, welche Faktoren hier eine Rolle gespielt haben.
Jan Claas Behrends, Historiker und Osteuropa-Experte an der Viadrina in Frankfurt (Oder)
Jan Claas Behrends, Historiker und Osteuropa-Experte an der Viadrina in Frankfurt (Oder)
© Foto: Jan Claas Behrends

Für Russland und seine Bevölkerung geht das Imperium über alles. Sein Erhalt ist wichtiger als Freiheit und Wohlstand. Kann es so einfach sein?

Für Russland ist das im Großen und Ganzen richtig. In den 1990er Jahren fiel die Entscheidung, dass sich Moskau in die imperiale Tradition stellt. Das begann bereits unter Boris Jelzin. Insgesamt müssen wir uns fragen, warum sich Gesellschaften nach dem Ende der UdSSR so unterschiedlich entwickelten, von Russland und Belarus über den Kaukasus und die Ukraine bis zu den baltischen Staaten, die schon in der Nato sind. Es gab viele verschiedene Wege aus der einförmigen sowjetischen Welt. Warum? Dazu gibt es für uns an der Viadrina viel Forschungsarbeit zu leisten.

Zur Person

Der Historiker Jan Claas Behrends, 1969 in Bremen geboren, leitet an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) den Lehrstuhl „Diktatur und Demokratie“. Außerdem forscht Professor Behrends am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam. Gemeinsam mit Kollegen macht er den Podcast "Ostausschuss der Salonkolumnisten". Die Schwerpunkte seiner Arbeit liegen auf der Zeitgeschichte Osteuropas und der Gewaltforschung. Bereits seit der Annexion der Krim 1914 beschäftigt er sich intensiv mit dem Krieg in der Ukraine und der Krise des russischen Staates.