Wer bisher den Namen „Fritz Kittel“ und „Reichsbahn“ googelte, bekam zumindest bis vor Kurzem keinen Treffer. „Wer war Fritz Kittel?“, heißt auch der Titel der neuen Ausstellung, die im Deutschen Technikmuseum in Berlin zu sehen ist. „Er war ein einzelner Mensch, der die Verantwortung übernommen und gehandelt hat“, sagt Esther Dischereit, Kind einer Holocaust-Überlebenden.
Der Eisenbahner Fritz Kittel hat ihre Mutter Hella und Schwester Hannelore 1944 vor den Nazis versteckt. Beide überlebten den Zweiten Weltkrieg. „Als Kind hörte ich öfter den Namen Fritz Kittel und konnte doch damit nichts anfangen“, erzählt Esther Dischereit, die 1952 in Heppenheim (Hessen) geboren ist.
Dokumente in Schubladen
Die Schriftstellerin und Theater- und Hörstückautorin fing vor ein paar Jahren selbst an zu recherchieren, nachdem sie auf eine Akte gestoßen war, in der ihre Mutter den Eisenbahner bei den Alliierten nach dem Krieg als „Retter“ angegeben hatte.
Dieses Dokument und viele andere Zeugnisse können Besucher des Technikmuseums in Kreuzberg nun bis Ende April in Ausstellungs-Schubladen einsehen, in denen die Geschichten der jüdischen Familie und die ihres Helfers erzählt werden.
Dazu gibt es kleine Dokumentarfilme, in denen unter anderem Familienangehörige berichten, was über die Generationen weitergegeben wurde. Hella Zacharias und ihre kleine Tochter müssen in den letzten Kriegsjahren in Berlin von Versteck zu Versteck ziehen, weil ihnen immer wieder die Denunziation droht, und um nicht aufzufallen oder zu erfrieren, fahren sie manchmal tagelang mit der Straßenbahn durch die Stadt.
Über Bekannte kommen sie 1944 in Sorau, dem heutigen Żary in der polnischen Woiwodschaft Lebus in der Niederlausitz unter. Wie genau sie Fritz Kittel kennenlernen, ist bis heute nicht geklärt. „Klar ist nur, dass sie in demselben Mietshaus wie er teilweise auf dem Dachboden versteckt lebten“, berichtet Chana Dischereit, die ihre Mutter durch mehrere Städte auf Recherchereise begleitete.
Weil auch in Sorau Verrat und Entdeckung drohen, gibt Fritz Kittel die jüdische Frau als seine Verlobte und ihr Kind als seine Nichte aus, die „ausgebombt“ worden seien und nun bei ihm Unterschlupf fänden. „Wir wohnten zeitweise zusammen in einer gemeinsamen Wohnung. Er hatte eine Verlobte, mit der er das besprochen hatte, denn diese durfte ihn zu dieser Zeit nicht offiziell besuchen“, berichtet Hannelore Zacharias in einem der Ausstellungsvideos.
Ihre Mutter kann sich als „falsche“ Verlobte dagegen auch von Nachbarn im Hausflur sehen lassen und so auch mal das Haus verlassen. Die siebenjährige Hannelore wird sogar zeitweise zur Schule geschickt. Allerdings muss das Kind so tun, als wäre es von den Bombenangriffen so traumatisiert, dass es nicht mehr sprechen könne, um sich im Zweifel nicht bei Fremden zu verplappern.
Nacht zur Toilette zu gehen war tabu
Nachts zur Toilette eine Etage tiefer zu gehen, sei dagegen zu gefährlich gewesen, erinnert sich Hannelore. Ihre Mutter hätte stattdessen einen Eimer genutzt, den Frank Kittel dann heimlich gelehrt habe.
Es ist eine sehr persönliche Schau, die da zwischen alten Kriegslokomotiven und einem Deportationswaggon zu sehen ist. „Dies ist genau der richtige Ort für so eine Ausstellung“, findet der Direktor des Technikmuseums Joachim Breuninger.
Obwohl sich die Deutsche Bahn schon ziemlich lange und offen mit ihren Verstrickungen mit dem Holocaust beschäftige, sei es an der Zeit, nicht nur Täter- und Mitläufertum zu beleuchten, sondern auch die Geschichte eines „Gerechten“ zu erzählen, der sich gegen den Wahnsinn des Dritten Reichs gewehrt und etwas getan habe.
Als die Russen sich nähern, wird der Reichsbahnarbeiter Kittel Anfang 1945 nach Heringen/Werra in Hessen versetzt. Er überredet Hella, mit dem letzten Räumungszug mitzukommen. In Heringen geht er zum Amt und gibt Hella als seine Frau und Hannelore als seine Tochter aus. Mit dem gefälschten Reichsbahnausweis kann „Hella Kittel“ nun auch bei Fliegerangriffen in den Bunker fliehen. Als sie oben die amerikanischen Panzer anrollen hören, steigen Mutter und Tochter die Bunkertreppe hinauf in die Freiheit.
Retter erzählte nichts von seinen Taten
„Ich habe immer gedacht, ich müsste Fritz Kittel finden, und ihm sagen, dass sie überlebt haben“, erzählt Esther Dischereit, die die Ausstellung gemeinsam mit Kuratorin Susanne Kill entwickelt hat. Doch nach langen Recherchen sieht sie, dass der Verladeschaffner, der 1947 heiratete und bis zu seiner Pensionierung in den 1960er-Jahren bei der Eisenbahn arbeitete, das gewusst haben muss. Seine Familie fand in seinen Sachen unter anderem auch ein Notizbuch mit Adressen der Verstecke meiner Mutter.
Doch berichtet hat der 1980 verstorbene Kittel seinen Angehörigen nichts von seinen Heldentaten. „Was wollen Sie denn, Sie rufen seit 14 Tagen schon an?“, fragt Kittels Enkel 2019 etwas genervt am Telefon, nachdem Esther Dischereit ihn endlich persönlich an die Strippe bekommt.
Das Erstaunen ist groß, als sie ihm die ganze Geschichte erzählt. „Der Vater war einer, der wollte nichts für sich. Er war zufrieden. Wenn er um etwas gebeten wurde, dann wollte er den Wusch erfüllen“, zitiert die Schriftstellerin Kittels Tochter Ernestine in einem ihrer kurzen literarischen Ausstellungstexte.
Esther Dischereit war es wichtig, dass der unbekannte Retter ihrer Familie auf irgendeine Art eine Ehrung erfährt. Die persönlichen Geschichten beider Familien will die 60-Jährige auch in einen aktuellen Kontext setzen, wenn es zum Beispiel um aktuelle Fragen zu illegalen Flüchtlingen geht. „Damals war es richtig und ehrenhaft, dass Herr Kittel Papiere gefälscht hat“, betont Dischereit. „Für meine Familie hat es überhaupt kein Aufnahmeland mehr gegeben.“
Die Ausstellung
Die Ausstellung „Wer war Fritz Kittel – ein Reichsbahnarbeiter entscheidet sich – zwei Familien 1933 bis 2022“ ist bis zum 30. April 2023 im Deutschen Technikmuseum an der Trebbiner Straße 9 in Berlin-Kreuzberg. Anfang Mai zieht die Wanderausstellung dann nach Chemnitz weiter und ist dort im Kontext der Jüdischen Kulturtage zu sehen. Weitere Orte sind geplant.
Besucherinformationen zum Berliner Technikmuseum unter technikmuseum.berlin/