„Kalte Kirchen sind unsere Räume“, sagt Organisatorin Gabi Lettow zur Eröffnung des Festivals Aequinox in Neuruppin – und erinnert sich an Konzerte im Schnee oder bei 2 Grad plus in Wittstock.
Und, ja, während die Capella Angelica in der vollbesetzten Klosterkirche zu Dietrich Buxtehudes Kantatenzyklus „Membra Jesu Nostri“ von 1680 hingebungsvoll die Glieder Christi besingt, von den Füßen über die Knie und Hände bis zur Brust, kriecht die Kälte vom Kirchenboden immer höher im Körper, bis man nach 75 Minuten selbst die Märznacht vor der Kirche als vergleichsweise warm empfindet. So gesehen also ein echtes Aequinox-Konzert.
Vorbei mit Sommer, open air, Liegestühlen und einem letzten Drink am See, wie es in den beiden Ausweichjahren 2021 und 2022 möglich war. „In den Sommer, da gehören wir einfach nicht hin“, sagt Lettow – auch, weil ein Teil des treuen Stammpublikums des „Festivals zur Tag- & Nachtgleiche“ dann eher mit Urlaub, Garten oder Enkelkindern beschäftigt war. Die Kartenverkäufe der letzten Jahre – 2020 musste das Festival wegen des Lockdown in letzter Minute ganz abgesagt werden – haben der rührigen Neuruppiner Organisatorin doch einige Sorgenfalten ins Gesicht gezaubert. Umso erleichterter ist sie, dass sich der Kartenverkauf in diesem 14. Jahr des Bestehens des renommierten Alte Musik-Festivals sehr gut angelassen hat. Die kleineren Aufführungsorte waren schnell ausverkauft, und selbst die große Klosterkirche gut gefüllt, und am Samstag Abend gibt es vor der Pfarrkirche lange Schlangen, die auf Einlass warten. „Wir spielen jetzt jedes Jahr ein Vivaldi-Wochenende“, scherzt Gabi Lettow angesichts des großen Interesses für „New Vivaldi“.
Glühende Barockmusik zum Auftakt
Dort gibt es am Freitag Abend zum Start gleich ein Konzert von Weltklasse zu erleben. Neun Sänger und Sängerinnen der Capella Angelica, neun Musiker der Berliner lauttencompagney bringen Buxtehudes Kantatenwerk zum Glühen. „Wenn Sie Buxtehude bislang noch nicht kannten, werden Sie ihn heute als einen der schönsten Barockkomponisten entdeckten“, hatte Wolfgang Katschner, der Leiter der lauttencompagney, zu Beginn versprochen, und er hält Wort.
Eingefasst von zwei Konzerten besingt das zentrale Kantatenwerk tatsächlich die Körperteile Christi. Jeweils mit einem „Salve“-Gruß werden Fuß, Knie, Hand oder Herz begrüßt, um danach im Wechsel zwischen Soloarie und mehrstimmigen Passagen fortzufahren. Die neun Ensemblemitglieder der Capella Angelica sind auch als Solisten meisterlich – Anne Stadler lässt ihren klaren Sopran durch den Raum schweben, Stefan Kunath sorgt als Altus für zarte Töne, und Cornelius Uhde gibt als Bass das Rückgrat. Wunderbar, wie Textpassagen durch die einzelnen Stimmen wandern. Und als sich zum abschließenden Konzert „Herr, wenn ich dich nur hab“ die Sängerinnen und Sänger im Kirchenraum verteilen und ihr Halleluja über die Köpfe des Publikums hinweg zum Echospiel machen, sind alle Glückshormone ausgeschüttet.
Volkslieder in kabarettistischer Popvariante mit rosenroth
Die vereinzelten Schwalben, die in der Klosterkirche zum Eröffnungskonzert ihre Runden drehten, machen noch keinen Frühling. Doch mit Vögeln geht es auch im folgenden Programm weiter, wenn das dreiköpfige Ensemble rosenroth im Nachtkonzert in der frisch renovierten Katholischen Kirche deutsche Volkslieder in verpoppter Version zur Gitarre zu Gehör bringt. Da ist die „Vogelhochzeit“ dabei und „Auf einem Baum ein Kuckuck saß“, der „Lenz“ und der „Lindenbaum“. Und auch wenn die sehr humorvoll, geradezu kabarettistisch gefüllte Stunde nach dem heiligen Ernst und der Innigkeit des Klosterkirchenkonzerts ein etwas harter Wechsel ist – mit dem ohne viele Mätzchen innig vorgetragenen „Der Mond ist aufgegangen“ entlassen sie das Publikum in eine sternklare Frühlingsnacht.
Karfreitagszauber in Alt-Ruppin
Als hätte der Zauber gewirkt, ist am nächsten Tag Frühling – und als das Vokalensemble Opella Musica nachmittags in der schönen Dorfkirche von Alt-Ruppin mit „Geistlichen Madrigalen aus dem Israelsbrünnlein“ von Johann Hermann Schein (1586-1630) antritt, ist die Kirche glücklicherweise geheizt und die Sonne scheint durchs Fenster. So wird es, pünktlich um 15 Uhr, fast eine Karfreitagsmusik, mit Psalmentexten, die das fünfköpfige Vokalensemble mit Violone-Begleitung zu inbrünstigen Gebeten formt. Expressiv wispern die Stimmen zu „Was betrübst du dich, meine Seele, und bist so unruhig in mir?“, stocken dann bei „Darum bricht mir mein Herz“ und finden mit „Harre auf Gott“ zu Stärke und Halt. Auch wer nicht gläubig ist, dem klingt der Wunsch „Er gebe uns ein fröhlich Herz“ als Begleiter nach. Und die Sängerinnen und Sänger werden begeistert gefeiert.
Vivaldi einmal anders in der ausverkauften Pfarrkirche
Vögel entwickeln sich zum Leitmotiv – auch „New Vivaldi“, die Neuproduktion der lauttencompagney, die am Sonnabend in der ausverkauften Pfarrkirche dargeboten wird und im am 31. März auch in die Schinkelkirche nach Neuhardenberg kommt, startet mit „Canto degli uccelli“, einer Bearbeitung des Frühlings aus den „Vier Jahreszeiten“. Die Bearbeitungen von Flötist Martin Ripper und Cellist Bo Wiget lassen von Vivaldi nicht viel übrig, wenn sie Blues und Tango, Balkan-Melodik und Folk darüberlegen oder die Sätze wie minimal music in die Endlosschleife schicken. Da kommt Karola Elßners Saxofon ziemlich nahtlos von Vivaldis „Sommer“ zu Gershwins „Summertime“, und manchmal klingt das Ganze wie eine Mischung aus Rondo Veneziano und Ennio Morricone. Und doch: „Das ist alles schon angelegt bei Vivaldi“ beteuert Wolfgang Katschner, und verspricht den „allergrößten Respekt“. Und tatsächlich: der „poppigste Barockkomponist“, so Arrangeur Martin Ripper, lässt sich ganz wunderbar mit Percussion und Saxofon darbieten. Und spätestens als die Truppe mit dem Sommergewitter aus den „Vier Jahreszeiten“ in die Schlussrunde geht, donnert auch im Saal der Applaus.
Landlust-Finale mit Eva Mattes
Nicht die „Vier Jahreszeiten“, sondern die „Elemente“ erklingen im Abschlusskonzert in der Schinkelkirche von Wuthenow, in der Fassung des Pariser Geigers und Komponisten Jean-Féry Rebel (1666 – 1747). Im „Chaos“ donnern und zürnen und zittern die Violinen höchst modern. Und die Sopranistin Johanna Kaldewei, die am Sonntag Morgen im Neuruppiner Stadtgarten schon in Domenico Cimarosas Opern-Satrire „Der Theaterdirektor in Nöthen“ als wunderbar zickige Diva zu erleben war, stolpert mit Georg Philipp Telemanns Rezitativ „Fast wär ich gar zu spät gekommen“ in die Schinkelkirche.
Die Konzert-Lesung mit der Schauspielerin Eva Mattes ist „Auf der Suche nach der besten Welt“, und die findet sich, unschwer zu erraten, natürlich auf dem Land. Dazu hat Gineke Pranger (Textauswahl) jede Menge Belege herausgesucht: Sei es, dass Voltaire in „Der rechte Landwirt“ vom idealen Bauernhof träumt, Georg Philipp Telemann in Briefen von Anemonen, Windröschen und Gänseblümchen schwärmt und bekennt, dass neben dem Komponieren seine zweite Leidenschaft die Blumenliebe sei, oder die Dichterin Annie Dillard die Spottdrossel auf ihrem Schornstein als Frühlingsboten besingt, es blüht und zwitschert und sprießt aufs Schönste.
In Telemanns Kantate „Die Land-Lust“, die Johanna Kaldewei vorträgt, lautet die Antwort auf „Wo ist die beste Welt?“ ordentlich gereimt „In dir, beblümtes Feld“. Und Eva Mattes liest eine wunderbare Passage aus Christian Cay Lorenz Hirschfelds „Das Landleben“ von 1775, die mit der Aufforderung: „Kommen Sie, Freund, aufs Land“ sanfte Stille statt Getöse und Blumenpflücken am Morgen verspricht und noch heute als Lockruf für jeden Städter durchgehen könnte.
Doch damit das Ganze nicht zu idyllisch und eskapistisch wird, endet das Konzert mit einer innigen Friedensbitte, in Telemanns Kantate „Umschlinget uns, ihr sanften Friedensbande“. Denn, so schreibt Wolfgang Katschner angesichts des „grausigen Kriegs mitten in Europa“ im Programmheft: „Mit Musik kann man keinen Krieg entscheiden und auch keinen Frieden erzwingen.“ Aber: „Gemeinsam Musik in einem Konzert zu erleben macht glücklich, bringt uns mit der Welt in Kontakt und – ist vernünftig“. Ja, die beste aller Welten lag in diesen drei Tagen in Neuruppin.
Programminfos und Tickets unter www.lauttencompagney.de