Es gibt Momente beim Anschauen eines Filmes von Angela Schanelec, da wünscht man sich, dass das alles weniger artifiziell wäre, weniger steif und inszeniert, weniger Kunstfilm eben. Irgendwann nach etwa einer Stunde Laufzeit – manchmal mehr, manchmal weniger – stellt sich dieses Gefühl ein.
Schanelecs Filme sind eine Zumutung. Oder besser: eine Herausforderung. Denn war dranbleibt, wird mit sinnlichen Bildern und verstörenden, sehr starken Emotionen belohnt, die sich irgendwann wie nebenbei einstellen, ohne dass sich im Einzelnen aufschlüsseln ließe, wie genau diese evoziert werden. Ihr neuer Film „Music“ stellt das einmal mehr unter Beweis.
Man könnte glatt übersehen, dass es sich hier um eine Adaption des Mythos von Ödipus handelt. Schanelec (61) verknüpft eine Reihe von scheinbar disparaten, nur fragil zusammenhängenden Begebenheiten miteinander, dabei nimmt sie große zeitliche Sprünge vor. Dem Zuschauer bleibt es überlassen, selbst die Zusammenhänge zu rekonstruieren.
Ein Findelkind, ein Jahr im Knast und eine Reihe von Unfällen
Es beginnt mit einem Findelkind, das in einer Steinhütte im ländlichen Griechenland geborgen wird. Ein Sanitäter nimmt das Kind gemeinsam mit seiner Frau auf. In der nächsten Episode ist dieses Findelkind – später erfahren wir, dass sein Name Jonathan ist – bereits erwachsen und mit seinen Freunden im Auto unterwegs. Ein Unfall geschieht, ihr Auto bleibt liegen, und während die anderen die Gelegenheit nutzen und im nahegelegenen Meer baden gehen, wird Jonathan (Aliocha Schneider) von zwei jungen Männern überfallen. Er setzt sich zur Wehr und erschlägt dabei versehentlich einen der beiden Angreifer.
Die nächste Episode oder das nächste Kapitel spielt in der Haftanstalt. Jonathan ist offenkundig ein leidenschaftlicher Musikliebhaber, er hört barocke Motetten auf einem kleinen Kassettengerät. Und er bändelt mit einer der Aufseherinnen im Knast (Agathe Bonitzer) an. Später, als Jonathan längst entlassen worden ist, stellt die Aufseherin fest, dass sie bereits früher in einer nicht näher bestimmten Beziehung zu Jonathan stand. Es ist eben keine exakte Übernahme des Ödipus-Stoffes, bei dem der tragische Held seinen eigenen Vater tötet und die Mutter heiratet.
Nach einigen Verwicklungen und weiteren großen Zeitsprüngen – so viel kann verraten werden – führt die Handlung nach Berlin, wo Jonathans Leidenschaft für Musik ihn an die Universität treibt. Dramatische Unfälle ziehen sich weiterhin durch den Film wie ein Leitmotiv.
Spärliche Gestik, keine Mimik
Vergänglichkeit, tragische Verluste, das Verbundensein über den Tod hinaus, eine gefühlte Unabänderlichkeit des eigenen Geschickes – Regisseurin Schanelec, die bereits 2019 mit „Ich war zuhause, aber …“ im Wettbewerb der Berlinale vertreten war und damals mit einem Silbernen Bären ausgezeichnet worden ist, packt hier große Themen an. Ihre Figuren zeigen eine verstörende Schicksalsergebenheit, was durch die extrem dialogarme Inszenierung noch unterstrichen wird. Bis auf wenige Ausnahmen ohne Mimik und mit spärlichster Gestik spielend, sind sie mehr Typen oder Leerstellen, als dass sie ihre Figuren verkörpern.
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Wie Agathe Bonitzer auf der Pressekonferenz zum Film auf Nachfrage mitteilte – wie ihr Sparringspartner Aliocha Schneider auch kommt sie aus Frankreich – hatte sie beim Drehen überhaupt nicht das Gefühl, dass sie spielen würde. Die Regisseurin, die einst selbst als Schauspielerin gearbeitet hat, ist bekannt dafür, ihre Casts nicht zu „führen“; sie lässt den Darstellern große Freiheiten und analysiert oder erörtert die Szenen bewusst nicht gemeinsam mit der Crew.
Sorgsam komponierte Bilder
Angela Schanelecs Kino ist so weit von einer realistischen Erzählweise entfernt, wie man sich das von einem Berlinale-Wettbewerbsbeitrag nur denken kann – immerhin ist dies eines der größten Filmfestivals weltweit, ein echter Publikumsmagnet und keineswegs nur dem Cineasten- und Filmhochschulpublikum vorbehalten. Die Regisseurin, die auch an der Hochschule für bildende Künste (HFBK) in Hamburg lehrt, filmt in statischen, starren, sorgsam durchkomponierten Bildern. Kamerafahrten sind die absolute Ausnahme.
In Verbindung mit der kargen, ausgedörrten Felslandschaft Griechenlands und der strengen Barockmusik ergibt sich eine verstörende Wirkung. Wie in der Welt der barocken Musik – also in jener Epoche, bevor die Aufklärungsphilosophie mit ihrem Idealbild des kritisch-rationalen, verstandesbegabten Subjekts durchdrang – ist der Mensch hier eingehegt in ein strenges (man könnte sagen, auch wenn dieser Schluss im Film nicht explizit gezogen wird: göttliches) Gefüge.
Diese neu inszenierte Geschichte aus der griechischen Mythologie mag als ein Beispiel dafür dienen, dass es auch ein vorsprachliches Verständnis für Konflikte und Verwerfungen geben kann, das einsetzt, wenn sich nicht alle Anspielungen und Symbole rational aufschlüsseln lassen. „Music“ ist kein leichter Film, aber auch keiner, der sich leicht abschütteln lässt.
„Music“ läuft am Mittwoch (22.2.) um 10.00 Uhr im Cubix 9 und um 21.30 Uhr im Haus der Berliner Festspiele sowie am Sonntag (26.2.) um 9.30 Uhr im Zoo Palast 1. Weitere Informationen zum Festival finden Sie auf unserer Berlinale-Themenseite.
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Griechenland