Dieser Stoff taugt für die ganz große Bühne: Der Philosoph Seneca ist der Lehrer des jungen römischen Kaisers Nero. Er hofft, durch seine Reden berühmt zu werden, in Wirklichkeit aber legitimiert er mit seiner Lehrtätigkeit die brutale Willkürherrschaft seines Zöglings. Am Ende fällt Seneca, durch seinen Dienst am Hofe Neros längst selbst wohlhabend geworden, bei dem unberechenbaren Despoten in Ungnade. Der Kaiser stellt seinem einstigen Lehrer frei, sich entweder selbst zu töten oder sich seinem wenig zimperlichen Schergen auszuliefern.
Es ist ein Stoff, der geradezu einlädt, ihn sich als Gleichnis vorzustellen – als Mahnung an alle Geistesmenschen, sich mit der Macht einzulassen. Und genau das unternimmt der Regisseur Robert Schwentke, Jahrgang 1968, in „Seneca – Über die Entstehung von Erdbeben“. Sein Seneca ist ein eitler Opportunist, der sich nur allzu gerne an seinen eigenen Reden berauscht. Einer, der unbeirrt an die Macht der Worte glaubt, der von seiner historischen Bedeutung überzeugt ist und sein Denken und Reden schon immer mit dem Blick auf sein Nachwirken auf spätere Generationen ins Werk gesetzt hat.

John Malkovich – der Mann für abgründige, zwiespältige Figuren

Für die Hauptrolle hat Schwentke den wieder einmal großartigen John Malkovich („Being John Malkovich“, „Mile 22“) gewonnen. Nur wenige können solch ambivalente, abgründige Charaktere derart überzeugend spielen: Die Mischung aus flammendem Idealismus und eigennützigem Kalkül, aus scharfsinnigem Verstand und Eitelkeit, aus empfindlicher Wehleidigkeit und Kälte, die Schwentke seinem Protagonisten so entschieden zugedacht hat, ist schwer auszubalancieren. Malkovitch gelingt das aber sehr überzeugend.
John Malkovich als Seneca (v.l.), Louis Hofmann als dessen Assistent Lucilius, Samuel Finzi als Statius
John Malkovich als Seneca (v.l.), Louis Hofmann als dessen Assistent Lucilius, Samuel Finzi als Statius
© Foto: Filmgalerie 451
In Nero (Tom Xander) tritt ihm ein kindlich-naiver, sadistischer Tyrann gegenüber, der seinem Amt in keiner Hinsicht gewachsen ist. Nero feiert bacchanalische Feste, quält seine Geliebten und Untergebenen, und wer ihm in die Quere kommt, wird vernichtet. Eine narzisstisch gestörte Persönlichkeit, die es nicht ertragen kann, wenn ihr jemand überlegen ist oder auch nur Widerrede leistet. Ein unreflektierter Junge in seiner anal-sadistischen Phase.

Seneca lässt Nero seine Überlegenheit spüren

Nero (37-68 n. Chr.), der in den ersten Jahren seiner Amtsführung durchaus Interesse an politischen Lösungen gehabt hat und Ratschlägen gegenüber offen war, entgleitet dem Zugriff durch andere immer mehr. Er berauscht sich am Leid seiner Untergebenen. Seneca versucht, mäßigend auf ihn einzuwirken, von der Macht der Vernunft überzeugt. Es ist allzu offensichtlich, dass der verwöhnte, kindliche Jungkaiser seinem Lehrer in intellektueller Hinsicht nicht das Wasser reichen kann. Seneca aber begeht den fatalen Fehler, dass er andere – und so auch Nero – seine Überlegenheit spüren lässt. Das kann Nero mit seiner speziellen Persönlichkeitsstruktur auf keinen Fall ungestraft geschehen lassen. Widerspruch an seiner Staatsführung? Ausgeschlossen.
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Seneca fällt in Ungnade, er hört die Warnungen nicht oder nur unzureichend, die Neros ehrgeizige Mutter Agrippina (Mary-Louise Parker) ihm erteilt. Sie hatte Seneca einst aus der Verbannung an den Hof zurückgeholt, um dem damals erst zwölfjährigen Sohn eine erstklassige Bildung zu geben und ihm damit den Weg nach ganz oben in der römischen Machthierarchie zu ebnen.

Wasser predigen, Wein trinken

Hinter vorgehaltener Hand und im Kreis seiner Anhänger kritisiert Seneca den tumben, feisten, unbeherrschten Kaiser in drastischen Worten. Um seine hohen moralischen Vorstellungen von guter, gerechter und weiser Staatsführungskunst an sein Publikum zu vermitteln, lässt er blutige Theaterstücke aus seiner eigenen Feder aufführen. Er überschreitet alle Grenzen des guten Geschmacks und opfert sogar das Leben von Sklaven, um sein Publikum einem, von ihm offenkundig als kathartisch beurteilten, Schockmoment auszusetzen.
Und er redet. Er hält seinen Freunden lange, moralisierende Vorträge über das richtige Leben und über politische Fragen. Dabei ist er, der die Verwahrlosung der Macht in Rom mit so scharfen Worten kritisiert, längst selbst den Verlockungen der Nähe zum Herrscher verfallen. Seneca führt ein Leben im Luxus, er ist durch Nero ein angesehenes Mitglied der Oberschicht mit eigenem Landbesitz geworden. Er redet auch dann noch, als sein Schicksal längst besiegelt und der Nero-Untergebene Felix (Andrew Koji) auf ihn angesetzt ist.
Felix (Andrew Koji) erhält von Kaiser Nero den Auftrag, ihm den Philosophen Seneca tot auszuliefern.
Felix (Andrew Koji) erhält von Kaiser Nero den Auftrag, ihm den Philosophen Seneca tot auszuliefern.
© Foto: Filmgalerie 451
Dass der Philosoph, der als Denker in der Schule der Stoiker steht, seinen eigenen Untergang stoisch ertragen würde, lässt sich nicht unbedingt behaupten.

Geraldine Chaplin und Samuel Finzi in Nebenrollen

Auch in den Nebenrollen ist diese blutige Farce hochkarätig besetzt: Lilith Stangenberg spielt Senecas junge Gattin Paulina; empfindlich, kindlich-naiv und nur am eigenen Wohlergehen interessiert. Geraldine Chaplin ist als Lucia – eine Freundin und Anhängerin Senecas – zu sehen, ebenso Samuel Finzi, der die Rolle des Dichters Statius übernimmt.
Schwentke kostet die Wirkung der Worte aus, er zelebriert die historische Entrücktheit der Handlung mit fein ausgearbeiteten Monologen und gespreizt klingenden Dialogen. Das hat etwas Ironisches; der Blickwinkel des Films macht sich hier durchaus lustig über Seneca und den Gossip-versessenen, gleichfalls opportunistischen Kreis seiner Anhänger. Gegen die Willkür des Herrschers Nero können Worte am Ende nichts ausrichten: Nero beschließt, dass Seneca zu sterben hat.
Bekannt für Comic-Realverfilmungen wie "R.E.D. – Älter, Härter, Besser": Regisseur Robert Schwentke, Jahrgang 1968, arbeitet und lebt seit Jahren in Los Angeles. Er kommt ursprünglich aus Baden-Württemberg.
Bekannt für Comic-Realverfilmungen wie „R.E.D. – Älter, Härter, Besser“: Regisseur Robert Schwentke, Jahrgang 1968, arbeitet und lebt seit Jahren in Los Angeles. Er kommt ursprünglich aus Baden-Württemberg.
© Foto: Stephan Zirwes/Filmgalerie 451
In der Wahl seiner filmischen ausdrucksmittel setzt der Regisseur auf leinwandfüllende Bilder einer steinigen Wüste, die das Umland des antiken Roms darstellen sollen. Groteske Frisuren, starker Einsatz von Schminke und farbenfrohe, wallende Kostüme und Gewänder stellen die Dekadenz der römischen Gesellschaft aus. Hin und wieder durchbricht Schwentke die Fiktion der Historie ganz bewusst, indem er zum Beispiel eine Szene ganz bewusst in der bröckelnden Ruine eines Amphitheaters spielen lässt.

Naheliegende Analogien zu Trump und Putin

Diesen Film als Parabel auf heutige Despoten zu deuten, liegt nahe. In dem kindlich-verspielten, feisten Nero begegnet dem Zuschauer ein Typus, wie er dem Gegenwartsmenschen unter anderem in Gestalt von Donald Trump oder Wladimir Putin in den Medien begegnet ist. Schwentkes „Seneca“ verdeutlicht, wie es möglich ist, dass ein ausgeklügeltes, hochentwickeltes Staatswesen binnen kürzester Zeit den Bach hinunter geht, wenn es den einflussreichen Funktionären und (medialen) Multiplikatoren einer Gesellschaft nicht gelingt oder sie nicht willens sind, sich dem Missbrauch der Macht entgegenzustellen.
Julian Sands, Schauspieler aus Großbritannien, wird seit Mitte Januar vermisst. Er war zu einer Wanderung in den Bergen nahe Los Angeles aufgebrochen. (Archivfoto von 2013)
Julian Sands, Schauspieler aus Großbritannien, wird seit Mitte Januar vermisst. Er war zu einer Wanderung in den Bergen nahe Los Angeles aufgebrochen. (Archivfoto von 2013)
© Foto: Richard Shotwell/dpa
Die Präsentation von „Seneca – Über die Geburt von Erdbeben“ im Rahmen der Reihe Berlinale Speciale Gala indessen wird von einem tragischen Vorfall überschattet: Der britische Darsteller Julian Sands („Zimmer mit Aussicht“), der die Nebenrolle des Rufus spielt, gilt seit einer Bergwanderung in Kalifornien seit einigen Wochen als vermisst.
„Seneca – Über die Geburt von Erdbeben“ läuft am 21.2. um 9.30 Uhr in der Verti Music Hall und um 21.30 Uhr im HdBF sowie am 24.2. um 13.30 Uhr im Zoo Palast. Weitere Hintergründe und Informationen zum Festival sowie zum Ticketverkauf finden Sie auf unserer Berlinale-Themenseite.