Gräber, Tausende Gräber. Weiße Stelen, die die Namen der Toten tragen, so weit das Auge reicht. Und ein ganzes Gräberfeld nur für Kinder. So sieht es rund um das Koševo- und Olympia-Stadion in Sarajevo aus. Die Arena hat seit ihrer Fertigstellung 1950 wahrlich viel gesehen. Vieles davon hatte mit Sport nichts zu tun. Aber mit Krieg.
Deshalb mutet der heutige Name des Stadions in der Hauptstadt Bosnien und Herzegowinas auch einigermaßen makaber an. Seit 2004 heißt es Asim Ferhatović Hase Stadion. Ferhatović (1933–1987) war in den 1960er-Jahren ein erfolgreicher jugoslawischer Fußballer. Hase war sein Spitzname. Was nichts damit zu tun hat, dass viele der Toten, die rund herum bestattet sind, tatsächlich tagtäglich wie Hasen um ihr Leben rennen mussten, um beim Einkaufen oder Arbeiten den Kugeln der serbischen Scharfschützen, den Bomben und Granaten, die auf die Stadt von 1992 bis 1995 hagelten, zu entkommen. Sie haben es nicht geschafft.
Ihre Leichen türmte man einen Steinwurf weiter auf, im Bauch des einstigen Zetra-Eisstadions, wo sich Eiskunstläuferin Katarina Witt 1984 erstmals zur Olympiasiegerin gekrönt hatte. Die internationalen SFOR-Truppen fanden die Berge von Toten und leiteten ihre Bestattung ein. Dann schlugen sie in der Eishalle ihr Hauptquartier auf.
Mit dem Layouter ins Konzert
Dragan sitzt neben mir auf der Tribüne und raucht eine Zigarette nach der anderen. Ob ihm diese Dinge, ob ihm der Krieg gerade durch den Kopf gehen? Von Januar bis Juni 1997 hatte ich ein halbes Jahr lang zusammen mit ihm und einer Handvoll deutscher Soldaten der SFOR-Presseabteilung die Feldzeitung „Der Keiler“ herausgebracht. Dragan war für das Layout des Blattes zuständig. Nun, Ende September 1997, bin ich nach Sarajevo zurückgekehrt und habe ihn eingeladen, mit mir zusammen das erste große Konzert nach dem Krieg zu besuchen. Gleich würden U2 im Koševo-Stadion die Bühne betreten.
Mit uns warten 45.000 Menschen darauf, dass es losgeht. Einige Tausend von ihnen sind SFOR-Soldaten aus aller Herren Länder. Der Rest sind Bosnier, Serben und Kroaten, bosnische Muslime und bosnische Serben, orthodoxe Christen und Katholiken. Bis vor Kurzem haben sie sich bekriegt, waren Feinde. Heute sind sie es nicht. Sie singen und feiern gemeinsam, schwenken die Flaggen ihrer Nationen und die irische, die der Band U2.
Das Publikum in Sarajevo wird Schlagzeuger Larry Mullen 2006 in der Autobiografie „U2 by U2“ so beschreiben: „Am Ende des Konzerts gingen sie nicht nach Hause. Sie drehten sich um, sodass sie der Friedenstruppe gegenüberstanden, und applaudierten. Das war ein Augenblick, den ich nie vergessen werde.“
Ein Stück Normalität für das kriegszerstörte Land
Die Idee der Band ist, mit dem Konzert auf der „PopMart Tour“ ein Stück Normalität in das kriegszerstörte Land zu bringen. Die Show mit der zu dieser Zeit größten Videowand aller Zeiten und auch die Setlist sind deshalb nahezu identisch mit den Konzerten in London einen Monat und in Paris drei Wochen zuvor. Leider fehlt so auch der zu dieser Zeit knapp zehn Jahre alte Song „When Love Comes To Town“, der hier doch so wunderbar passen würde.
Und doch ist in Sarajevo vieles völlig anders als in London oder Paris. Weil die Band auf Gage und Gewinn verzichtet und die Anreisekosten für immerhin 50 Lastzüge mit Bühnenausstattung selbst trägt, kosten die Tickets nur umgerechnet 20 D-Mark, was immer noch sehr viel Geld ist für die Menschen, von denen viele im Krieg alles verloren haben. Dragan hätte sich das Konzert nicht geleistet. Er hat eine kleine Familie, mit der er in einem Mehrfamilienhaus lebt, in dessen Mauern Schüsse und Granatsplitter Narben aus Beton hinterlassen haben. Die Wohnung ist winzig, trotzdem darf ich hier übernachten. Geld für ein Konzert hätte Dragan nicht übrig. Wir stoßen mit Bier auf den schönen Abend an, während Gitarrist The Edge solo „Sunday Bloody Sunday“ in die Dämmerung hinein spielt.
Dann bekomme ich Gänsehaut und bin damit sicherlich nicht der einzige: Zusammen mit dem 2007 gestorbenen Opernsänger Luciano Pavarotti und auf dessen Drängen hin hatten U2 den Song „Miss Sarajevo“ aufgenommen. Es geht um einen Schönheitswettbewerb, mit dem junge Frauen dem Krieg trotzen.
Empfohlener Inhalt der Redaktion
An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt von Youtube, der den Artikel ergänzt. Sie können sich diesen mit einem Klick anzeigen lassen und wieder ausblenden.
Externer Inhalt
Sie erklären sich damit einverstanden, dass Ihnen externe Inhalte von Youtube angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden.
Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.
Diesen Wettbewerb gab es tatsächlich in Sarajevo. Auf den Schärpen der Mädchen stand: Wollen die uns wirklich töten? Im Koševo-Stadion fehlt Pavarotti. Seine Stimme kommt vom Band und geht im Duett mit Bono trotzdem richtig unter die Haut. Der U2-Frontmann nennt den Opernstar in seinem aktuellen Buch „Surrender“ den „Mann mit der Stimme, die größer war als die Welt“.
Das Konzert beendet Bono mit den Worten „Forget the past, kiss the future! Viva Sarajevo!“ (Vergesst die Vergangenheit, küsst die Zukunft! Es lebe Sarajevo!) In Anlehnung an einen andern U2-Hit setzt tags darauf die Zeitung „Oslobodenje“ die Überschrift „U ime ljubavi“ – „In The Name Of Love“ (Im Namen der Liebe) über den Beitrag zu dem Konzert. Besser kann man es nicht auf den Punkt bringen.
Dragan und ich haben uns nach einem starken bosnischen Kaffee umarmt und verabschiedet. Einige Jahre später verloren wir den Kontakt. Ich hoffe, es geht ihm gut. Vielleicht sieht er bald auch „Kiss the Future“ und erinnert sich.
Die Ukraine ruft Erinnerungen wach
Die Idee zu dem Film kam Bono und The Edge auf einer Zugreise nach Kiew, mit der sie die Anstrengungen der Ukraine im Kampf gegen Russland unterstützten. Dort wurden die Erinnerungen an Sarajevo wach, sagte Bono der „Welt“: „Die Botschaft des Films lautet: Was die Menschen in Sarajevo ertragen mussten, fängt für die Bewohner von Kiew gerade erst an." Wie in Sarajevo steht auch in der ukrainischen Hauptstadt ein Olympia-Stadion. Nicht ausgeschlossen, dass U2 eines Tages noch einmal versuchen, mit einem Konzert wieder für ein Stückchen Normalität zu sorgen.
„Kiss the Future“ wird am 21. Februar um 21.15, am 22. Februar um 13 Uhr und am 23. Februar um 21.30 Uhr in der Verti Music Hall gezeigt, Bono ist anwesend. Tickets gibt es hier. Alles zur Berlinale finden Sie auf unserer Berlinale-Themenseite.