Ein Leben als idealistische Kunstschaffende, ohne realistische Aussicht auf ein sicheres Auskommen oder etwas Wohlstand im Alter, stattdessen mühevolle Arbeit von früh bis spät und der Traum von der Selbstverwirklichung – die wenigsten Eltern würden das wohl vorbehaltlos ihren eigenen Kindern empfehlen. Normalerweise stellen sich Sorgenfalten ein, wenn der Nachwuchs den Eltern am Küchentisch gesteht, dass sie ihrer eigenen kreativen Bestimmung folgen wollen.
In der Familie, die das unverwüstliche französische Regie-, Drehbuchautoren- und Schauspieler-Schlachtross Philippe Garrel (74) zum Gegenstand seines neuen Berlinale-Wettbewerbsbeitrages „Le Grand Chariot“ gemacht hat, ist es umgekehrt: Der Vater (Aurélien Recoing) hält seit Jahrzehnten die Fahne einer uralten Puppenspieler-Dynastie im Wind, gegen alle Trends und Prognosen. Mit seiner charismatischen Persönlichkeit, Talent und viel Herzblut rettet er die eigene kleine Bühne am Leben, setzt immer wieder neue fantasievolle Stücke auf den Spielplan, die doch stets der alten Tradition verpflichtet sind, pflegt die handgemachten Puppen, begeistert verlässlich immer neue Generationen von Kindern.

Zwischen Pflichtgefühl und eigenen Wünschen

Doch die Kräfte schwinden. Seine drei Kinder, die der Vater neben der anstrengenden Arbeit nach dem frühen Tod der Mutter nur mit der nähenden Großmutter – der guten Seele der Familie – großgezogen hat, sind längst in den Betrieb hineingewachsen. Sie packen mit an, sie gehen in ihrer Rolle als Puppenspielende auf, und der müde Vater setzt jede Hoffnung in sie, dass sie die Familientradition in die nächste Generation retten können.
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Dann holen Schicksalsschläge die Familie ein, und die Lebenssituation der Kindergeneration wird aus unterschiedlichen Gründen infrage gestellt.
Philippe Garrel besetzt hier seine eigenen drei Kinder in den Rollen der Geschwister. Das ist eine kluge Entscheidung: So intim, vertraut und natürlich wie Lena, Esther und Louis Garrel könnte diese fordernden Rollen sonst wahrlich niemand spielen. Hier agiert wirklich eine lebendige Familie vor der Leinwand, mit allen charakterlichen Besonderheiten und Gewohnheiten, die sich über viele Jahre eingeschliffen haben. Das Trio macht seine Sache aber auch unabhängig von diesem geschwisterlichen Aufeinanderbezogensein gut: Der innere Konflikt, den sie ausfechten zwischen der Verpflichtung gegenüber der Familie und eigenen Zielsetzungen im Leben, wird hier allezeit spürbar.
216499029 Ein Bild von der 70. Berlinale im Jahre 2020: Regisseur Philippe Garrel präsentierte damals seinen Wettbewerbsbeitrag "The Salt of Tears ("Le sel des larmes").
216499029 Ein Bild von der 70. Berlinale im Jahre 2020: Regisseur Philippe Garrel präsentierte damals seinen Wettbewerbsbeitrag "The Salt of Tears ("Le sel des larmes").
© Foto: Jörg Carstensen

Typisch französisches Kino

Garrel arbeitet mit den erzählerischen Mitteln dialoglastiger und psychologisch akkurater Filme aus der französischen Tradition. Die Ernsthaftigkeit, mit der hier Grußmutter, Vater, Kinder und Freunde gemeinsam an einem nostalgischen, ja, fast schon romantisch verklärten künstlerischen Projekt arbeiten, und in der sie mit ihren Freunden umgehen, ist in dieser Nähe und Detailversessenheit wohl nur im französischen Kino denkbar. Der Regisseur, der als Co-Autor auch am Drehbuch beteiligt war, nimmt seine Charaktere wahrlich ernst.
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Fraglich ist allerdings, ob die Grundkonstellation der Handlung glaubwürdig ist. Welche Familien bilden heute überhaupt noch derart alternativlos eine Schicksalsgemeinschaft, welche talentierten jüngeren Erwachsenen in Westeuropa hadern noch so sehr damit, sich für das eigene Fortkommen zu entscheiden? Diese romantische Versuchsanordnung einmal außer Acht gelassen, ist „Le Grand Chariot“ ein wirklich sympathisches Erzählstück, mit sympathischen und nahbaren Figuren zum Ins-Herz-schließen.
„Le Grand Chariot“ wird am 21.2. um 18.45 Uhr sowie am 26.2. um 15.30 Uhr im Berlinale Palast gezeigt, am 22.2. um 9.30 Uhr im Haus der Berliner Festspiele, am 22.2. um 12.24Uhr sowie am 24.2. um 22.00 Uhr in der Verti Music Hall. Tickets gibt es hier.