Jeden Montag wird Wochensitzung abgehalten - die Neuen stellen sich vor, die regulären Gäste diskutieren darüber, was das Wochenprogramm bieten soll. Filmabende? Einen Vortrag über Corona-Impfungen und ihre Folgen - oder vielleicht doch lieber den Tanzworkshop, den eine Patientin schon so lange anbieten möchte. Äußern darf sich jeder – auch wenn die Diskussionen manchmal etwas aus dem Ruder laufen.
Adamant ist ein ungewöhnliches Projekt: Ein Holzschiff auf der Seine, unweit des Gare de Lyon, das als Tagesklinik für psychisch Kranke funktioniert. Ein freundlicher Ort, mit Holzlamellen vor den Fenstern, die sich öffnen wie Augenlider, und mit einer Bar, die von den Patienten und dem Klinikpersonal gemeinsam betrieben wird. Da gibt es Besucher, die immer kommen und aus der gleichen grünen Tasse trinken wollen. Und die Wochenabrechnung, bei der alle gemeinsam die Einnahmen zählen, wird zur Geduldprobe – nie stimmen die Summen überein.
Nicolas Philibert, der französische Regisseur, der schon mit „Every Little Thing“ 1997 einen Film über eine psychiatrische Einrichtung gedreht hatte, hat mit seinem neuen Dokumentarfilm nun den Goldenen Bären der Berlinale gewonnen. Was den Regisseur, der mit dem Ausruf: „Sind Sie verrückt, oder was?“ die Preisentscheidung entgegennahm, besonders freut: Weil es beweise, dass Dokumentarfilme als vollgültige Filme angesehen werden. Mit seinem Film habe er versucht, das Bild, das die Gesellschaft "von den sogenannten Verrückten" habe, umzudrehen, sagte der 72-Jährige. "Wie wir alle wissen, sind die verrücktesten Menschen nicht diejenigen, von denen wir denken, dass sie es seien", sagte Philibert.
Geduldiges Zuhören als Markenzeichen
Und tatsächlich: Über verrückt oder nicht verrückt denkt man nicht mehr nach, wenn Philibert gelassen und unaufdringlich die Kamera auf sein Gegenüber richtet. Das abgedroschene Wort von der „Augenhöhe“ ist hier tatsächlich passend: Es ist, als ob es keine Schranke gebe durch die zwischengeschaltete Technik, so unvergestellt sprechen die Protagonisten von ihren Träumen, ihren Ängsten, ihren Wünschen. Ein Dialog ohne Vorbehalte, und ein geduldiges Zuhören, auch wenn sich die Gedankengänge nicht immer sofort erschließen. Gezeigt werden besondere Menschen, verletzlich, kreativ, oft auch sehr humorvoll, und niemals verstellt.
Empfohlener Inhalt der Redaktion
An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt von Youtube, der den Artikel ergänzt. Sie können sich diesen mit einem Klick anzeigen lassen und wieder ausblenden.
Externer Inhalt
Sie erklären sich damit einverstanden, dass Ihnen externe Inhalte von Youtube angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden.
Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.
Egal, ob es der Poet und Musiker ist, der sich als Alter Ego von van Gogh begreift und beklagt, Wim Wenders habe ihm eine Idee gestohlen. Oder die Mutter, die ihren Sohn zwar gut aufgehoben weiß in einer Pflegefamilie, aber trotzdem davon träumt, für ihn zu kochen und mit ihm Hausaufgaben zu machen. Ein anderer beklagt, für seine Eltern eine einzige Enttäuschung gewesen zu sein. Und wieder ein anderer freut sich auf den Ausflug mit der kleinen Tochter in den Zoo.
Wie ein Vergrößerungsglas wirke die Psychiatrie auf ihn, erklärt Philibert und beklagt gleichzeitig, dass unter dem enormen Kostendruck in Frankreich die meisten Einrichtungen im Verlauf der letzten 25 Jahre zu Verwahranstalten geworden seien. Die Diskussion, ob eine Psychiatrie etwas anderes sei als ein Knast, führen auch die Patienten auf der Adamant, und kommen zum Schluss, hier sei es viel besser, weil auch die Pfleger am liebsten reden und zuhören würden. Das tun auch dieser Film und sein Regisseur aufs Schönste: Reden lassen und zuhören. Der Goldene Bär, den Jurypräsidentin Kristen Stewart mit der „großen Menschlichkeit“ des Ansatzes begründete, ist absolut verdient.
„Sur L‘Adamant läuft noch einmal am 26.2. um 14.30 Uhr im Haus der Berliner Festspiele. Alles zur Berlinale finden Sie auf unserer Berlinale-Themenseite.