Herr Wilke, die Bezeichnung „Baseballschlägerjahre“ wurde in den letzten Jahren viel diskutiert. Was verbinden Sie persönlich mit dem Begriff?
Meine persönliche Assoziation aus eigenem Erleben heraus ist, dass es Jahre waren, in denen man sich als junger Mensch in Frankfurt (Oder) nicht frei und sicher bewegen konnte. Dabei gab es unterschiedliche Phasen, wovon einige sehr beängstigend waren. „Baseballschläger“ steht symbolisch für einen Teil meiner Jugendzeit.
Mit zwölf Jahren kehrten Sie nach Frankfurt (Oder) zurück. Wie war es für Sie, ab Mitte der 1990er-Jahre in dieser Stadt aufzuwachsen?
Meine Lebensrealität als Kind war geprägt davon, dass es unterschiedliche Jugend- und Subkulturen gab, die sich im Wesentlichen in rechts und links gespalten haben. Allerdings war es damals mehr pseudopolitisch, denn eine richtige Vorstellung von links und rechts hatten beide Seiten nur begrenzt. Dennoch verlief dazwischen eine ziemlich harte Grenze, die in Teilen mit Gewalt ausgetragen wurde. Ich war Teil der eher linken Szene, da war Frankfurt (Oder) kein sicherer Ort für mich.
Haben Sie auch selbst Erfahrungen mit Gewalt gemacht?
Ich habe bereits in Russland erlebt, wie es ist, einem gewissen Maß an Willkür ausgesetzt zu sein. Es gab viel Elend und Armut auf den russischen Straßen. Ich habe sogar selbst gesehen, wie Mafialeute einem Mann die Hand abhackten. Da war so ein Gefühl, dass dir jederzeit ohne eigenes Zutun etwas passieren könnte, was ungerechtfertigt ist und ungestraft bleibt. Und dieses Gefühl ist ziemlich schlimm.
Inwiefern sind diese Erfahrungen mit Ihren Erlebnissen in Frankfurt (Oder) vergleichbar?
Dieses Maß an Willkür, in einer anderen, geringeren Dimension, haben wir damals in Frankfurt (Oder) auch erlebt. Rechte Schlägertrupps sind durch die Straßen gelaufen und haben Jagd auf Menschen gemacht. Mir geht es heute noch manchmal so, dass ich durch die Magistrale laufe und mich zurückerinnere, wie oft wir damals gerannt sind. Wir wussten: „Entweder sind wir schneller, oder wir sind dran!“ Wir haben nie alleine das Haus verlassen und uns immer verabredet. Alleine vor die Tür zu gehen, war gefährlich
Viele Betroffene dieser Zeit sagen sehr deutlich, dass die rechte Gewalt ihren Alltag prägte. Würden Sie das auch über Ihre Jugendzeit sagen?
Ja, aber ich vermute, dass es in der rechten Szene in Teilen genauso war. Ich selbst habe nie Gewalt ausgeübt, aber es gab auch in der linken Szene unterschiedliche Kaliber. Darunter sehr radikale Kräfte, die sich mit Gewalt zur Wehr setzten und manchmal selbst zum Ausgangspunkt der Gewalt wurden. In dieser Szene war ich selbst nicht aktiv. Von daher kenne ich eher die Opfer-, aber nicht die Täterrolle.
In einigen Fällen wurden Menschen zufällig Opfer rechter Gewalt, oft aber traf es auch Menschen, die sich gezielt gegen diese Gewalt engagierten. Wie war es in Ihrem Fall?
Es hat früher sogar Listen gegeben, auf denen unsere Namen standen, auch meiner. Das waren keine „Todeslisten“, aber Listen mit den „Hauptfeinden“. Wir haben schon sehr exponiert Stellung bezogen. Und auch mein Aussehen – wie meine Kleidung und meine lockigen, gefärbten Haare – war eindeutig zuzuordnen. Damals hatte ich noch Haare. (lacht)
Jahrzehntelang wurde über die Gewalt in den 1990er-Jahren kaum gesprochen. Warum haben die damaligen Opfer so lange geschwiegen?
Die Wahrnehmungswelten der Opfer sind in andere Generationen nicht vorgedrungen. Die jungen Menschen, die von den Taten hätten erzählen können, haben damals überwiegend die Stadt verlassen. Außerdem sind diese Geschichten nicht sonderlich sexy für eine Stadt. Daher gab und gibt es kein übermäßiges Interesse, dieses Thema hochzuholen und darüber zu sprechen.
Haben Sie Hilfe von außen bekommen? Wie hat sich die Stadtpolitik damals verhalten?
Ich habe die Politik in dieser Phase nicht wahrgenommen. Die Erwachsenenwelt hat generell wenig mitbekommen. Bis heute ist es nicht Teil der Lebensrealität älterer Menschen und manche sprechen dann sogar von einer Verunglimpfung der Stadt, wenn das Thema an sie herangetragen wird. Mein Vater hat es irgendwann mitbekommen und versucht aufzupassen, was ich erst später erfahren habe. An manchen Tagen hat er heimlich im Auto gewartet und geschaut, dass mir nichts passiert. Erst später gründeten wir Initiativen wie das Jugendparlament und kamen mit der Stadtpolitik in Kontakt. Das war aber deutlich nach der Hochphase der Gewalt.
Das klingt so, als habe die Politik sowohl die Opfer als auch die Zivilgesellschaft mit dem Problem im Stich gelassen. Hatte man allein überhaupt eine Chance, die Gewalt zu stoppen?
Die gibt es immer, auch heute. Hätte Frankfurt (Oder) nicht einen anderen Umgang damit gefunden, stünden wir heute an einem anderen Punkt. Eine aktive Zivilgesellschaft macht immer einen Unterschied. Die Frage ist, auf was für Boden es fällt, wie stark die Gegenwehr ist und was toleriert und was geächtet wird.
Es dauerte dennoch bis Ende der 1990er-Jahre, bis sich erste Bündnisse gegen Rechts in Frankfurt (Oder) gründeten. Erst als die NPD in das Stadtparlament einzog, schien das die Menschen wachzurütteln. Warum?
Ich vermute, dass es mit einer gewissen Sensibilisierung und einem wachsenden Bewusstsein zu tun hat. Lange Zeit war rechte Gewalt nicht Teil der Wahrnehmungswelt. Erst durch die Geschichten der Kinder zu Hause, mehr polizeilich-aktenkundige Vorfälle und Augenzeugen auf der Straße wurde ein Bewusstsein gestärkt. Dadurch ist dann auch mehr passiert.
Der Verein Utopia e.V. veröffentlichte Ende 2021 eine Chronik rechter Gewalt in der Region. Ist es auch heute noch gefährlich, sich in Frankfurt (Oder) gegen Nazis zu engagieren?
Wie überall gibt es heutzutage auch hier noch gewalttätige Menschen, Neonazis und Entwicklungen, die wir intensiv beobachten müssen. Ich glaube aber nicht, dass es heute in Sachen Gefährdung mit damals vergleichbar ist. Gleichwohl gab es erst kürzlich einen Vorfall in der Berliner Straße der zeigt, dass wir unbedingt wachsam bleiben müssen und es völlig zu Recht eine latente Sorge und Sensibilität gibt. Es muss zu jeder Zeit unmissverständlich klar sein, was hier toleriert und was geächtet wird. Fremdenfeindlichkeit, Rechtsextremismus und jede Form der Gewalt stoßen hier auf enorm breiten, unüberwindbaren Widerstand.
Rechte Gewalt in Brandenburg von 2002 bis 2020
Im Gespräch mit dem Autor und Journalisten Christian Bangel erwähnten Sie ein Treffen, das es von linker und rechter Szene Ende der 1990er-Jahre gegeben hat. Welche Rolle spielten Sie dabei?
In der rechten Szene gab es einen Typen, Jörg Hähnel, an dem sich viele orientiert haben. Die ideologische Schulung kam von ihm. Hähnel hatte kein Interesse daran, dass die Rechten nur mit irgendwelchen Schlägereien assoziiert werden. Und wie das in Gruppen so ist, werden bestimmte Personen zu einer Anlaufstelle für andere. Für einen kleinen Teil der linken Szene war ich diese Person, für Teile der Rechten war es Hähnel. Ich habe immer versucht, mit ihm zu diskutieren, auch auf Demos und bei Infoständen.
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Wie ist es dann zu dem Treffen gekommen?
Wir haben dann festgestellt, beide, dass wir sehr weit auseinanderliegen, aber dass diese ständige Angst auf der Straße kein Zustand ist und aufhören muss. Und dann haben wir uns im Lokal Diebels getroffen – ich weiß sogar noch, an welchem Tisch. Jeder durfte drei Leute mitbringen. Wir saßen dann jeweils zu viert dort und haben diskutiert und am Ende eine Art Waffenstillstand vereinbart.
Worum ging es in dem Gespräch?
Damals waren wir noch in einer Phase voller Inbrunst und haben versucht, uns gegenseitig mit Argumenten zu überzeugen. Wir wollten den Anderen regelrecht umdrehen, weil wir selber so überzeugt von der eigenen Sache waren. Es waren richtig harte Diskussionen, die da stattgefunden haben. Betont wurde aber, dass es besser ist zu diskutieren, als sich zu schlagen.
Ein „Waffenstillstand“ kann erfahrungsgemäß sehr brüchig sein. Wie war es in Ihrem Fall?
Die jeweiligen Seiten waren zuvor sehr anonymisiert und in Feindbilder aufgeteilt. Aber wenn man erstmal ein paar Worte gewechselt hat und den Namen des anderen kennt, dann schlägt man nicht mehr so leicht zu. Das ist ein ganz simpler Effekt, der dann auch zumindest für Teile der jeweiligen Szenen eingetreten ist.
Wenn es so erfolgreich war, warum werden derartige Treffen nicht wiederholt?
Ich versuche immer noch, mit Menschen so umzugehen. Aktiv auf sie zuzugehen, auch bei sehr unterschiedlichen Auffassungen. Aber es hat natürlich seine Grenzen und ist ein strittiger Weg. Manche favorisieren eher den Weg der Abgrenzung und Ausgrenzung. Ich habe eine andere Grundeinstellung. Ich bin davon überzeugt, dass es wichtig ist, in jeder Art von (Re-)Integrationsprozess - soweit möglich - noch ein Stückchen die Tür offen zu halten und bereit zu sein, die Hand zu reichen.
Kurz nach dem Mauerfall wurde im April 1991 ein polnischer Bus von Rechten angegriffen, vor einigen Monaten hingegen wurden Geflüchtete aus der Ukraine am Bahnhof mit offenen Armen empfangen. Wie ist der Unterschied zu erklären?
Ich hätte mir gewünscht, dass manches von der jetzigen Hilfsbereitschaft auch für vergangene Fluchtbewegungen gegolten hätte und Menschen mit anderer Hautfarbe zuteilgeworden wäre. Das Argument, dass es sich bei ukrainischen Geflüchteten mehrheitlich um Weiße handele und sie deswegen automatisch als gut angesehen werden, ist zwar Teil der Erklärung, aber dennoch zu kurz gegriffen. Denn die polnischen Nachbarn sind das auch und da waren wir schon mal anders drauf.
Wir haben hier in der Grenzregion einfach schon sehr viele Erfahrungen mit zunächst fremden Menschen, aufeinander Zugehen und Integrationsprozessen sammeln können. Und ich glaube, dass die unterschiedliche Empathie viel damit zu tun hat, dass wir hinsichtlich der Ukraine über Wochen gesehen haben, wie der Konflikt sich aufgebaut hat und quasi live dabei waren. Mit der Berichterstattung darüber ist eine Sympathie mitgewachsen.
Nach anfänglicher Hilfsbereitschaft im Zuge der Geflüchtetenbewegung 2015 schlug die Stimmung schnell um. Befürchten Sie eine Wiederholung?
In der Breite der Gesellschaft nehme ich nicht wahr, dass die Stimmung gegenüber ukrainischen Geflüchteten umschlägt. Es scheinen mir eher einzelne, aber dafür recht laute Menschen zu sein, die sich negativ äußern. Aber ohne Sorge bin ich nicht. Im Kern geht es immer wieder um die Frage, was Menschen in Deutschland – einem Land, in dem es uns im weltweiten Vergleich sehr gut geht – als legitimen Fluchtgrund betrachten.
Oft werden Krieg und die Gefahr für das Leben als sehr legitime Gründe zur Flucht verstanden, nicht aber Armut, Elend und die Hoffnung auf ein besseres Leben. Das ist natürlich für Menschen, die nun zufällig auf diesem Teil der Erde geboren wurden, eine komfortable Haltung und lässt sich leicht so sehen.
Trotzdem gehen aber vor allem im Osten Deutschlands, auch in Frankfurt (Oder), wöchentlich Menschen auf die Straße und äußern teils sogar Sympathie für Putin...
Dieser Beitrag ist Teil der Serie Rechtsextremismus in Brandenburg von MOZ und LR.
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