Manche Menschen laufen immer gerade dann zur Höchstform auf, wenn ihnen der Wind besonders scharf ins Gesicht bläst. Roger Waters ist so ein Fall. Nach der heftigen Kritik an seiner „This Is Not A Drill“-Konzertproduktion, die in kommunalpolitische Debatten um Konzertabsagen (Frankfurt am Main, München, Köln) gipfelte, präsentiert sich der 79-jährige Brite bei seinem Berliner Gastspiel in absolut blendender Laune.
Schon bevor der erste Ton erklungen ist, wird dieser Abend zu einem Musterbeispiel für große Unterhaltung. Roger Waters mimt zunächst per Stimme aus dem Off den Saalordner, der im Fünf-Minuten-Takt den Beginn der Veranstaltung annonciert und darum bittet, die Plätze einzunehmen. Und dann hat er noch eine Ansage zu machen, die „von öffentlichem Interesse“ sei: Ein Gericht habe befunden, dass Roger Waters KEIN Antisemit sei: „Exzellent“, so des Sängers hämischer Kommentar. Und weiter: „Nur um deutlich zu sein: Ich verurteile Antisemitismus vorbehaltlos.“ Die Häme über die kommunalpolitischen Irritationen ist ihm anzumerken.
Aber es geht bei alledem auch um Musik. Begleitet von einer neunköpfigen Band und einer grandiosen Bühnenshow mit riesigen Videoleinwänden, zieht Waters jede Menge Trümpfe seiner langen Karriere aus dem Ärmel. „Another Brick In The Wall“, „Wish You Were Here“ oder auch „Shine On You Crazy Diamond“ bedienen die Vorlieben der Pink-Floyd-Fans, und neuere Stücke wie „Is This The Life We Really Want?“ vom gleichnamigen 2017er-Album demonstrieren, dass der Altmeister nichts von seinem Biss verloren hat. Für seine 79 Jahre ist er auch körperlich noch gut in Schuss.

Alle Kriege der jüngeren Vergangenheit

Auf der kreuzförmigen Bühne, die mitten in die große Mercedes-Benz-Arena hineingestellt worden ist, wird jedes Lied zur politischen Botschaft. Die Liste der Konflikte, die Roger Waters in seinen Stücken verhandelt oder neuerdings dort hineinliest, ist lang: Der Krieg in der Ukraine, die militärischen Interventionen der USA seit Beginn der 1980er-Jahre, Ausbeutung und Vernichtung indigener Kulturen, die Rechte von Trans-Personen, der Nahostkonflikt und viele mehr.
Antisemitismus-Vorwürfe gegen den Pink Floyd-Sänger – Konzert in München findet dennoch statt
Roger Waters in Berlin
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Berlin
Bei der Neudeutung seiner Kompositionen hilft ihm eine ebenfalls kreuzförmige Konstruktion aus Videoleinwänden, die nach dem ersten Stück („Comfortably Numb“, ganz ohne das markante Gitarrensolo aus der Feder von Floyd-Gitarrist David Gilmour, dafür mit Vogel-Gekreische und weiblicher Gesangsstimme am Ende) in die Höhe gezogen wird, was fortan den Blick auf sämtliche Band-Musiker freigibt. Durch diese Videoleinwände und die zentrale Bühnenanordnung hat das euphorische Publikum von überall her eine gute Sicht, bis hoch unters Dach.

Der verleugnete David Gilmour

Der Bandleader schreitet von einem Ende der Bühne zum anderen, singt mal hier mit weit ausholenden Armen in ein Mikrofon, greift mal dort in die Akustikgitarre, und spielt natürlich auch immer wieder sein altes Hauptinstrument, den elektrischen Fender-Bass. Zwei Background-Sängerinnen (Amanda Belair, Shanay Johnson) assistieren ihm mit voluminösen Stimmen und nehmen mit einstudierten Choreographien die Bühne kaum weniger raumgreifend in Beschlag. Keyboarder Jon Carin hat schon vor knapp 30 Jahren mit den anderen Pink-Floyd-Mitgliedern auf der Bühne gestanden. Jonathan Wilson und Dave Kilminster an den Gitarren sorgen dafür, dass niemand David Gilmour vermissen muss. Zumindest als Instrumentalisten.
Rockspektakel auf Todesstreifen - "The Wall" vor 30 Jahren in Berlin
Musik
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Berlin
Allerdings: Die Art, wie Waters den verhassten Gitarristen nachträglich quasi aus der Bandgeschichte herauslöscht, hat schon etwas von Nachtreten. Da werden Bandfotos demonstrativ ohne Gilmour auf die Videowände geworfen, stattdessen ist Truppe immer wieder in der Ur-Besetzung mit Syd Barrett zu sehen. Und wenn Waters dann die Floyd-Geschichte als großes Abenteuer zweier englischer Jungs (Syd und Roger) erzählt, die einst bei einem Rolling-Stones-Konzert beschlossen, eine Band zu gründen, und dazu „Wish You Were Here“ anstimmt – dann ist das zwar alles nicht falsch, aber eben nur die halbe Wahrheit. Denn Barrett musste die Band aufgrund seiner Drogenprobleme schon während der Aufnahmen zum zweiten Album wieder verlassen, und der unsterbliche Lagerfeuer-Song ist mindestens genauso Gilmours Werk, auch wenn der Text vom verblichenen Genie Barretts handeln mag.

George Orwell und ein Schwein ohne Judenstern

Auch in Berlin greift Waters wieder die wohlbekannten George-Orwell-Metaphern des „Animals“-Albums von 1977 auf, um seine Kritik an einer kapitalistischen Gesellschaftsform zu illustrieren. Es fliegt erst ein aufgeblasenes Schaf (bei dem Stück „Sheep“ – der wohl härtesten Rocknummer an diesem Abend) und später ein Schwein („Run Like Hell“) durch das Hallen-Oval. Waters verzichtet nun jedoch wohlweislich darauf, einen Davidstern auf dieses Schwein drucken zu lassen. „Nimm es von den Armen, gib es den Reichen“, prangt da nun drauf.
Proteste am Rande des ersten von zwei Roger-Waters-Konzerten in Berlin (17./18. Mai 2023)
Proteste am Rande des ersten von zwei Roger-Waters-Konzerten in Berlin (17./18. Mai 2023)
© Foto: Keuenhof, Rainer
Seine beiden Berlin-Konzerte sind ein Eiertanz, keine Frage. Genauso wie viele andere Auftritte im Rahmen der „This Is Not A Drill“-Tour – die abgesagten ebenso wie die tatsächlich stattfindenden. In Polen kann Waters nicht auftreten; dort ist die Begründung aber eine ganz andere: Es ist seine vergleichsweise Russland-freundliche Haltung in der Frage des Ukraine-Krieges, der die Offiziellen doirt auf die Palme gebracht hat. Nicht aber unterstellter Antisemitismus, wie in Deutschland. Doch auch das Ukraine-Thema umschifft Waters in Berlin weitgehend.
Aber auch ohne dieses Thema gibt es für ihn genügend Anlässe zur Positionierung. Einmal bindet Waters sich demonstrativ für einen Song ein Palästinensertuch um den Hals. Mit Political Correctness hat er es nicht so, das macht er bereits zu Beginn des Abends deutlich: Der ganz neue Song „The Bar“, geschrieben während der Lockdowns, dient ihm als eine Art Motto für diesen Konzertabend. Er wolle eine Atmosphäre wie in einer Bar schaffen, in der jeder frei von der Leber weg seine Meinung sagen könne. Keine Denk- und Redeverbote, stattdessen (politischer) Klartext. Und damit trifft Waters den Nerv seines Publikums.
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In seiner langen Karriere hat der Sänger, Bassist und Songschreiber seine kreative Triebkraft oft eng an das Gefühl der Unterdrückung und der Ungerechtigkeit geknüpft. Die vaterlose Kindheit im tristen Nachkriegsengland, der im Krieg gefallene Vater, das spießige Establishment, der tödliche Kapitalismus – das waren immer schon seine großen Themen. Wer seine Interviews und Medienbotschaften seit Beginn der heftigen Kritik an seiner „This Is Not A Drill“-Tourproduktion verfolgt hat, der erlebte einen entfesselten, wütenden, bitter-satirischen und spöttischen Roger Waters.

„Dark Side Of The Moon“ für die Jetztzeit

Musikalisch besonders stark: Waters lässt die gesamte B-Seite des „Dark Side Of The Moon“-Albums aufführen, das in diesem März 50. Geburtstag hatte. Auch hier findet der Mastermind hinter den großen fantastischen Song-Narrativen von Pink Floyd wieder einen Dreh zur Gegenwart. In „Us And Them“ sind zunächst Bilder von der Mauer zu sehen, die israelische Siedlungsgebiete von der palästinensischen Westbank trennen. Und dann wird an die Grenze zwischen den USA und Mexiko übergeblendet, wo Donald Trumps Migrations-Schutzzaun bis in die anbrandenden Wellen des Pazifiks hineinmündet. Wir hier und die da drüben – an der Mauern-Metapher aus „The Wall“ (1979) arbeitet Waters sich immer aufs Neue ab.

Gesammelte Verbrechen der US-Präsidenten

Waters zieht alle emotionalen Register, er appelliert sehr geschickt an den Gerechtigkeitssinn seiner Zuhörer. Er zeigt leidende Kinder, er zieht Parallelen von Randgruppe zu Randgruppe. Nuklearwaffen sind schlecht, findet der schwargewandete Mann, er würde das Geld lieber für Bildung ausgeben. Wer wollte ihm da widersprechen? An einer Stelle in seiner Überwältigungsshow setzt er Kriegsverbrechen der US-Präsidenten seit Ronald Reagan in eins – Drohnenangriffe unter Barack Obama, Stellvertreterkriege in Lateinamerika unter Reagan etc. („The Bravery Of Being Out Of Range“). In „The Powers That Be“ listet er zuvor in ähnlicher Weise Opfer von Gewaltregimen auf, und auch hier umspannen seine Vergleiche die Zeiten: Die Widerstandskämpferin Sophie Scholl wird hier ebenso per Videoeinblendung mit einem Steckbrief gewürdigt wie George Floyd, das Opfer einer rassistischen Polizei-Attacke in den USA im Jahr 2020.
Roger Waters live am 17. Mai 2023 in der Mercedes-Benz-Arena - "This Is Not A Drill"-Tournee, hier beim Song "Another Brick In The Wall"
Roger Waters live am 17. Mai 2023 in der Mercedes-Benz-Arena - „This Is Not A Drill“-Tournee, hier beim Song "Another Brick In The Wall"
© Foto: Boris Kruse
Das ist in dieser Gesamtheit in der Tat ein kurioser, wilder Ritt, der zum Widerspruch herausfordert. Die Waters-Fans in der Halle – es sind längst nicht nur ältere Semester, und viele von ihnen tragen Pink-Floyd-T-Shirts – stiften diesem entfesselten Polit-Rocker frenetischen Beifall.
Am Ende wird es persönlich, dann wird auch die alte Geschichte von seinem verstorbenen Vater, den er niemals richtig kennenlernen konnte, wieder ausgegraben, samt überdimensionalem Familienfoto in Schwarz-Weiß. Dies ist das Ur-Trauma, das ihn wohl auf ewig verfolgen wird. Und zugleich ist es der Keim seiner Weltdeutung, in der die Unterdrücker, Kriegstreiber und Ausbeuter auf der einen Seite stehen und die Geschundenen, Armen, Sprachlosen auf der anderen. Gut gegen Böse, Freiheit oder Mauern, Frieden oder Krieg, Teilen oder Raffen – so einfach ist die Welt manchmal, jedenfalls für zweieinhalb sinnenberauschende Stunden, im Konzert mit Roger Waters.