Das Lexikon ist von 1885. Es liegt auf dem Tisch der überraschend aufgeräumten Werkstatt in Löwenberg. Die Seiten sind vergilbt, fallen auseinander. Der Rücken ist abgebröckelt und liegt in Fragmenten neben dem Inhalt, der sonst zwischen zwei Buchdeckel klebt. Ein privater Kunde aus Menz will sein Nachschlagewerk restauriert haben. "Das Buch bekommt einen neuen Lederrücken", sagt Pönisch, Jahrgang 1952. Das Material kommt aus Tschechien. Die Tierhaut ist dort günstiger. "Und sie färben sie nach meinen Wünschen ein."
Die Rückenreparatur kostet den Rentner ein paar Stunden Arbeit. Für ihn ist es Freizeit. Einen einfachen neuen Einband hätte der Kunde aus Menz für 20 Euro haben können. So kostet ihn die aufwendigere Restauration das Vierfache. Humane Preise, gerade für die Handwerksleistung. "Ich muss von den Aufträgen nicht mehr leben", sagt Pönisch. Seine Frau, selbst Buchbinderin, meckert manchmal mit ihm: Er verkaufe sich unter Wert.
Das diffizile Aufschneiden eines Rückens, das Leimen und Buchstaben-Stanzen mit Gold macht ihm zu viel Spaß, um wirtschaftlich zu denken. "Ich mache das, was kaum noch einer macht oder kann", sagt er. Sein Handwerk gehört zu den Berufen, die es nicht mehr lange geben könnte. Zu ihm kommen Menschen, die die Buchkunst zu schätzen wissen. "Das hat etwas mit Wertschätzung zu tun", sagt Pönisch. Alle andere gehen schnell in den nächsten Copy-Shop.
Am Montagmorgen ist Bernd-Christian Schneck, Bürgermeister des Löwenberger Landes, bei ihm zu Besuch. "Achim hat den Ehrgeiz, Altes und historisch Wertvolles zu erhalten", sagt er. Die beiden kennen sich seit Jahren, nicht nur die SPD-Mitgliedschaft verbindet die Männer. Sie schätzen sich. Auf dem Tisch liegt Karl Muchs "Geschichte des Landes Löwenberg". Für 22.Euro ist sie in der Verwaltung erhältlich, der Lederband mit Goldschnitt kostet etwas mehr. Die Chronik der Gemeinde setzt im 12. Jahrhundert an und endet 1850. Joachim Pönisch hat sie nachdrucken lassen – in der JVA Berlin-Tegel. Zwei Jahre hatte er in der Buchbinderei dort gearbeitet.
Die Arbeit mit Büchern hat Tradition in seiner Familie. "Schon mein Großvater war Buchbinder." Der Familienbetrieb geht zurück bis ins Jahr 1912. Zu DDR-Zeiten, erinnert sich Pönisch, habe es eine Vorschrift gegeben, nach der alte Bibeln nicht aufgeschnitten und neu zusammengeklebt werden durften. "Einige Kollegen haben das trotzdem gemacht." Andere nutzten vorschriftsmäßig Nadel und Faden, um die verschiedenen Hefte, aus denen ein Buch besteht, zusammenzuflicken. Pönisch konnte das nicht. "Man kann Bücher nicht einfach so zerstören", sagt er. Das ist der Ehrgeiz, von dem der Bürgermeister spricht.
Nachwuchs-Ausbildung
Joachim Pönisch gibt diesen auch weiter. Seit zwölf Jahren unterrichtet er am Oberstufenzentrum für Druck- und Medientechnik in Berlin, bildet Buchbinder aus. Doch mit einem eigenen Betrieb macht sich kaum noch einer der Absolventen selbstständig. "Viele studieren danach weiter, werden Restauratoren fürs Bundesstaatsarchiv beispielsweise." Mit etwas Glück findet sich vielleicht eine Buchbinderei, die jemand übernehmen möchte. Meist aber nicht. "Es ist ein idealistischer Beruf geworden." E-Books müssen nicht gebunden werden. Auf Qualität legt eine Branche, die in jedem Supermarkt und jeder Tankstelle günstig Taschenbücher verkauft, kaum noch Wert. "Das Buchbindersterben hört nicht auf." Es könnte höchstens ein Revival erleben. Wie die Schallplatte. "Aber davon leben wird kaum noch einer können."
Manchmal kommen Studenten zu ihm nach Löwenberg, die ihre Abschlussarbeit gebunden haben möchten. Doch Qualität kostet. "Für 3,50 Euro wie im Copy-Shop kann ich kein Buch binden." Er sagt dann ab. Ohne schlechtes Gewissen. Auch Bindungen mit Ringen kommen bei ihm nicht infrage. "In Papier mache ich keine Löcher." Da ist er rigoros und macht keine Abstriche – aus Liebe zum Handwerksberuf.
Als sein Vater 1983 in den Ruhestand ging, machte sich der Sohn selbstständig und übernahm den Betrieb in Velten. Zwei Jahre zuvor hat er seinen Meister gemacht. "Bis 1989 hatten wir jedes Jahr einen Lehrling." Mit wir meint er sich und seine Frau Barbara. Der letzte Azubi lernt im Wendejahr aus. "Danach ging es schnell bergab." Viele Betriebe stellten ihre Bibliotheken ein. Davor waren das seine Auftraggeber: die Büchereien der Stahl- und Chemiefaserwerke, der Tierseuchenforschung. Das alles brach weg.
Mitte der 1990er war Schluss
"1995 habe ich den Betrieb dann aufgegeben", erzählt er ohne Reue. Zeiten ändern sich. Seine Frau machte weiter, ihr Mann schulte beim TÜV zum Bauleiter um und wechselte die Berufe wie Leseratten ihre Bücher. Pönisch arbeitete im Ziegeleipark Mildenberg, beim damaligen Bundestagsmitglied Angelika Krüger-Leißner im Büro, in der JVA.
Als Außendienstmitarbeiter für eine Hamburger Buchdruckfirma sammelte er jährlich 30 000 Kilometer auf dem Tacho. Zudem war er Produktionsleiter einer deutschen Buchbinderei in Tschechien. "Ich bin dort immer noch als Leiter vermerkt, sie finden einfach keinen Nachfolger." Doch Joachim Pönisch reicht das, was er macht: Garten, Ehefrau, SPD-Vorstand im Löwenberger Land, Schlichter, Buchbinder bei ausgewählten Aufträgen. "Meine Hand für mein Produkt", sagt er. "Ich stehe hinter meiner Arbeit." Und die ist zeitlos. Ein schöner Rücken entzückt auch noch im digitalen Zeitalter.

Infokasten (3sp)

Infokästen haben ab sofort keinen blauen Punkt vorne, sondern nur einen gefetteten Anlauf.

Infokästen haben ab sofort keinen blauen Punkt vorne, sondern nur einen gefetteten Anlauf. Und am Ende steht ein Kürzel. kürzel