Wer am Bahnhof Sonnenallee aus der S-Bahn steigt, fühlt sich im ersten Moment an die Klischees erinnert, die sich um die gleichnamige Straße seit eh und je ranken: Kebab-Haus, Späti, arabischer Supermarkt, Elektronikhandel und Shishabar säumen das immer noch sehr raue Pflaster.
Doch wenn man nur wenige Schritte Richtung Süden den Neukölner Schifffahrtskanal überquert, findet man sich plötzlich in einem ganz anderen Ambiente wieder. Das Areal rund um das Estrel-Hotel an der Ziegrastraße ist gerade im Wandel. Rechts wächst der neue Estrel-Tower in den Himmel, der nach seiner Fertigstellung, die 2024 geplant ist, mit seinen 176 Metern das höchste Haus Berlins sein wird.
„Hafen der Kulturen“
Doch der neue Anbau für Europas jetzt schon größten Convention-, Entertainment- & Hotel-Komplex ist längst nicht das einzige Bauprojekt am südlichen S-Bahnring. Rund um das Estrel soll in den kommenden Jahren ein regelrechtes Hafenviertel mit 30.000 Büros, Restaurants, Ateliers und vor allem auch viel öffentlich zugänglichen Uferflächen entstehen. „Mit DOXS NKLN“ entwickelt Trockland ein Quartier mit der Zielsetzung, eine lebendige Nachbarschaft im Stil eines „Hafens der Kulturen“ zu kreieren, heißt es von den Planern.
Auf den Visualisierungen des Architekturbüros Graft sieht man ein Ensemble aus drei Neubauten. Erdgeschoss und das erste Obergeschoss der Gebäude bilden einen Sockelbereich, der sich mit einer transparenten Fassadengestaltung nach allen Seiten hin öffnet.
Dieser Bereich sei besonders für Kreativwirtschaft, Bildungsangebote, Gastronomie, Kultur und produktionsnahes Gewerbe geeignet, heißt es von den Entwicklern. Der lebendige Außenraum umfasse auch Flächen für eine Kindertagesstätte. Die darüber liegenden Etagen seien für Büros mit flexiblen Arbeitseinheiten vorgesehen.
Das Projekt nach Entwürfen des Architekturbüros Graft wurde schon im Vorfeld bereits mit dem AR Future Projects Award 2023 des internationalen Architekturmagazins Architectural Review in der Kategorie „Commercial mixed use“ ausgezeichnet.
Vorgefertigte Bauteile kommen per Schiff
Ein erster Mietvertrag für das Areal sei bereits unterschrieben: Der Hostelbetreiber Nena Hospitality GmbH wird in den Neuköllner Docks auf rund 4000 Quadratmetern einen weiteren Standort in Berlin eröffnen.
Und es soll schnell gehen. Anfang kommenden Jahres ist der Baustart anberaumt und Mitte 2026 soll Eröffnung gefeiert werden. „Es ist geplant, die neuen Gebäude mit seriell gefertigten Modulen zu errichten, die Energie, Ressourcen und Zeit sparen“, erklärt Barbara Sellwig, Senior Projektmanager von Trockland. Die Lage am Kanal sei perfekt, um die vorgefertigten Bauteile mit dem Schiff anzuliefern.
Die Planung sehe zudem die Wiederverwendung vorhandener Pflastersteine vor, die nach Abschluss der Bauarbeiten in den Außenanlagen eingesetzt werden sollen. „Die Dächer werden extensiv begrünt und erhalten Photovoltaikanlagen.“
Zwei historische Kräne aus der Zeit, als der Neuköllner Hafen Umschlagplatz war, bleiben erhalten und werden in das moderne Ensemble integriert. Eine weitere Besonderheit ist eine großzügige Aufenthaltsfläche, die in Anlehnung an ein Amphitheater geplant ist und von den Mieter:innen und der Nachbarschaft auf vielfältige Weise genutzt werden könne. „Bei Bauprojekten am Wasser ist ja immer schnell die Befürchtung da, dass die Uferwege zugebaut werden“, sagt Trockland-Sprecherin Jessica Esser. „Bei unseren Bauprojekten ist das aber genau umgekehrt. Wir wollen die Zugänglichkeit für die Öffentlichkeit schaffen.“
Einen Eindruck, wie sich das Leben am Neuköllner Schifffahrtskanal anfühlen kann, bekommt man jetzt schon im „Waterfront“ direkt gegenüber vom Hotel Estrel. In der neuen Freiluftgastronomie mit einem hölzernen Selbstbedienungs-Pavillon kann man bei gutem Wetter ab 15 Uhr unter Schatten spendenden Bäumen Gegrilltes und Salate essen und kühle Getränke konsumieren.
„In unserer Open Air-Location sind die Grenzen von Strandbar, Restaurant und urbaner Eventlocation fließend“, sagt Ute Jacobs, Direktorin des Estrel Berlin. „Wie der Name schon sagt, sitzt man direkt am Wasser – genau genommen am Ufer des Neuköllner Schifffahrtskanals, was für diese Gegend ungewöhnlich, aber mittlerweile Kult ist“.
Gleich nebenan hat der britische Künstler Yinka Ilori eine begehbare Installation aus bunten Leuchtstäben geschaffen. Immer Dienstag um 17.30 Uhr lädt dort eine Tanzperformerin zum kostenlosen Mittanzen ein. Mal zu Hip-Hop, mal zu Jazz, Motown oder Ethno Beats. Die Veranstaltung dauert rund eine Stunde lang. Der Eintritt ist frei, kostenlose Tickets gibt es am Counter in der Hotellobby.
So kann man sich auch gleich warmtanzen oder noch einen Imbiss nehmen, bevor man zu Stars in Konzert geht, das gerade mit dem neuen Programm die „Divas“ Donner Summer, Madonna, Cher, J.Lo und Marilyn Monroe gemeinsam auf die Bühne holt. So ist musikalisch für jeden Geschmack etwas dabei, und gerade ältere Semester reißt es schon mal im gut klimatisierten Saal von den gepolsterten Stühlen, wenn die Doppelgänger, die den Originalen in Stimmgewalt und Präsenz kaum nachstehen, die Klassiker aus der Jugend singen.
Bald kommt auch Elvis
Auch Elvis soll ab 10. August im Estrel Showtheater wieder auferstehen. Die Hamburger Morgenpost bezeichnete Grahame Patrick kürzlich als „vielleicht sogar besten Elvis Interpreten der Welt“. Dazu laufen auf den Leinwänden die legendären Aufnahmen aus dem Leben des Originalstars.
Die Bilder im Neuköllner Speicher, nur wenige Schritte entfernt, dagegen führen ein Eigenleben. Die alte Industriehalle, die das Estrel zum Museum umbauen ließ, wird den ganzen Sommer über vom belgischen Lichtkunstkollektiv „Skullmapping“ bespielt, das klassische Werke mit Hilfe von 3D-Technik zum Leben erweckt.
Hörkino auf dem neuen Uni-Campus
So werden wohl auch die jüngeren Semester nicht mehr lange auf sich warten lassen. Zum Winter dieses Jahres wollen die Schools der SRH Berlin University of Applied Sciences ihre Standorte an der Sonnenallee 221 auf einem neuen Campus bündeln.
Die künftigen Musik- und Medienmanager, Designer und IT-Spezialisten, die dort studieren, haben unter anderem Film- und Fotostudios, Ateliers, Band- und Übungsräume sowie Werkstätten. „Die Bühnen, die Probebühne und das Hörkino können sowohl für Vorlesungen als auch für Events genutzt werden“, heißt es von der Berliner Universität.
Hinzu kommen eine große Bibliothek und verschiedene Bereiche wie Innenhöfe, Dachterrasse, Cafeteria, Bar und attraktive Außenanlagen am Neuköllner Schifffahrtskanal, die zur Entspannung und zum Treffen einladen.
In den Umbau- und Neubau auf dem einstigen Grundstück des Nudelfabrikanten „Grießmühle“ hat die Klingsöhr Unternehmensgruppe in den vergangenen drei Jahren einen dreistelligen Millionenbetrag investiert und Raum für Büros, Labore, Startups und Gewerbe der Leichtindustrie geschaffen. „Sonneninsel“ wird der neue Komplex genannt, bei dem das Ufer ebenfalls für die Öffentlichkeit zugänglich geblieben ist.