„Ich dachte, dass ich in Marzahn-Hellersdorf auf Nazis treffe“, gibt Nelly Knoth unumwunden zu. Ein Vorbehalt, der sich für die Lehrerin aus Berlin-Wedding nicht bewahrheitete. Denn die Schüler und das Team an der Grundschule unter dem Regenbogen in Marzahn, in der die Sonderpädagogin vor vier Jahren anheuerte, ist so bunt wie ihr Name. Seit Dienstag sind die Kinder und Lehrkräfte Teil eines Kampagnen-Films, mit dem Lehrer aus ganz Deutschland nach Marzahn-Hellersdorf gelockt werden sollen.
Weil die Not so groß ist, haben sich die Schulleiter aller 53 staatlichen Schulen im Bezirk zusammengeschlossen und seit März gemeinsam mit einer Agentur in vielen Sitzungen eine Webseite entwickelt, die seit Dienstagabend online ist und mit denen Lehrer aus dem deutschsprachigen Raum rekrutiert werden sollen – von jungen Absolventen bis zu Quereinsteigern.

Schülerzahlen steigen in Berlin weiter an

„Wir legen die (P)latte hoch – Schule machen, Chancengeber:innen werden“ lautet der Schlachtruf der Internetplattform, damit die potenziellen Bewerberinnen und Bewerber nicht in die hippen Innenstadtbezirke wandern, sondern am nordöstlichen Stadtrand Berlins ihre neue berufliche Perspektive und Zukunft suchen.
„Bei der Deckung des Lehrkräftebedarfs darf es keine Denkverbote geben“, findet die Senatorin für Bildung, Jugend und Familie Katharina Günther-Wünsch (CDU). Der Berliner Senat geht zum nächsten Schuljahr berlinweit von fast 1500 fehlenden Lehrkräften aus. Zurückzuführen sei dies auf weiter steigende Schülerzahlen bei weiter sinkendem Lehrkräftebestand, insbesondere aufgrund von Pensionierungen, heißt es.
„Bei deutschlandweit anhaltend hohem Fachkräftebedarf spitzt sich somit auch in Berlin der über jahrelang gewachsene strukturelle Lehrkräftemangel weiter zu“, erklärt Susanne Gonswa, Sprecherin für den Bereich Jugend und Familie. Eine schnelle und vor allem einheitliche Lösung werde es dafür nicht geben – zu unterschiedlich seien die Mangelsituationen an den Schulen.
„Die Einstellungsverfahren für das kommende Schuljahr sind zwar noch in vollem Gange, aber für die Bezirke Marzahn-Hellersdorf, Treptow-Köpenick, Spandau oder auch Lichtenberg ist es jedenfalls in der Vergangenheit besonders herausfordernd gewesen, Lehrkräfte zu finden und zu halten“, so Gonswa. Man begrüße es ausdrücklich, wenn künftig auch andere Bezirke mittels Kampagnen ganz zielgerichtet Lehrkräfte ansprechen und versuchen, sie für den jeweiligen Bezirk zu gewinnen.

Möglichkeiten etwas zu verändern

Der Film für die Marzahn-Hellersdorfer Imagekampagne haben die Macher mit Schülern und Lehrern größtenteils am Anfang der Sommerferien gedreht. „Du denkst, hier ist es nur grau“, sagt ein Junge, bevor er und seine Klassenkameraden die Zuschauer in ihr grünes Umfeld mitnehmen.
Die Hauptprotagonisten sind aber Lehrer und Erzieher, die schon vor Ort sind und etwas bewegen wollen. „Marzahn-Hellersdorf ist ein Bezirk im Wandel und offen für neue Menschen“, findet Grundschulerzieher Jan Hofmann, der sich inzwischen selbst als bildungspolitischer Sprecher der SPD-Fraktion in der Bezirksverordnetenversammlung unter anderem für den Schulplatzausbau einsetzt.

Erste Compartmentschule in Marzahn-Hellersdorf geplant

„Wenn man die Möglichkeit hat etwas zu verändern, dann hier“, sagt auch Irina Zeidler. Die Lehrerin wird demnächst Leiterin der ersten von ihr mitbegründeten Compartmentschule in Hellersdorf. Bildung und Erziehung sollen dort umfassender gedacht und miteinander verflochten werden, heißt es in der Projektbeschreibung. Alle Innenraumbereiche der neuen Schule, die sich gerade im Bau befindet, würden zu Aufenthaltsflächen, in denen geforscht, gelernt, agiert und präsentiert werden könne.
„Ich habe wahnsinnig Lust darauf, ganz viel auszuprobieren“, sagt Zeidler. Das solle aber nicht auf dem Rücken der Schüler geschehen, sondern gemeinsam mit ihnen. „Ich will zeigen, wie Schule auch vielseitiger und mehr an den Kindern orientiert gestaltet werden kann“, betont die Pädagogin.
Irina Zeidler will demnächst die erste Compartmentschule in Marzahn-Hellersdorf eröffnen und leiten.
Irina Zeidler will demnächst die erste Compartmentschule in Marzahn-Hellersdorf eröffnen und leiten.
© Foto: Rankwerk
„Marzahn-Hellersdorf ist ein Ort, an dem viele Menschen anpacken, um aus der prekären Situation das Beste für die Kinder herauszuholen“, berichtet auch Lukas Zipris von der Agentur Rankwerk, die den den Online-Aufruf gestaltete und die Plattform, auf denen sich Lehrer mit wenigen Klicks an ihrer Wunschschule bewerben können, programmierte. „Auch im Bezirk ist der Wille da, etwas in der Bildungslandschaft zu verändern“, sagt der 28-Jährige. Er selbst stammt aus Lichtenberg, hat aber mit seinem Kompagnon Sascha Jarick schon mehrere ähnliche Projekte im Nachbarbezirk realisiert.
Darunter einen Imagefilm für den „Bildungscampus Kastanie“, einem Projekt, bei dem die verschiedensten Bildungseinrichtungen zusammenarbeiten, um gute Bedingungen für die Familien in Hellersdorf Nord zu schaffen.

Bildungsverwaltung prüft Erleichterungen bei Lehrer-Einstellungen

Dass sich alle staatlichen Schulen in einem Bezirk zusammenschließen, um gemeinsam um Fachkräfte zu werben, ist in Berlin noch neu, kommt aber angesichts der fehlenden Fachkräfte auch schon fast zu spät.
Um Auswirkungen wie Unterrichtsausfall abzumildern, will die Senatsbildungsverwaltung nach eigenen Angaben weitere Maßnahmen prüfen. Dazu gehörten unter anderem die Anpassung der Einstellungsvoraussetzungen für PKB-Lehrkräfte. Über die Personalkostenbudgetierung können die Schulen in eigener Verantwortung Vertretungslehrkräfte einstellen, um bei längeren Krankheitsfällen den Unterricht abzusichern.
Die Behörde will unter anderem aber auch den Einsatz von Ein-Fach-Lehrkräften, das Angebot dualer Studiengänge sowie die schnellere Anerkennung ausländischer Abschlüsse prüfen.
„Wir wollen dabei insbesondere die Schulen in den Blick nehmen, die im kommenden Schuljahr Schwierigkeiten haben könnten, die Stundentafel abzudecken“, erklärt Sprecherin Susanne Gonswa. Gerade diese Schulen sollten zum Bespiel von Verwaltungsaufgaben entlastet werden, damit die Lehrkräfte sich pädagogischen Herausforderungen und Fragestellungen noch umfassender widmen können.

Kartoffeln im eigenen Schulgarten ernten

Nelly Knoth von der Grundschule unter dem Regenbogen ist in Marzahn-Hellersdorf zwar keinen Nazis begegnet, hat aber tatsächlich mehr Aufgaben bekommen, als sie ursprünglich erwartet hatte. Für Kinder mit besonderem Förderbedarf hatte die Sonderpädagogin nach ihrem Wechsel an die neue Schule im Rahmen einer AG einen Schulgarten angelegt. „Doch schon bald kamen auch die anderen und fragten, ob sie mitmachen können“, berichtet die Grundschullehrerin. „Das habe ich noch nie erlebt, dass die Kids so intensiv buddeln und sich über jede Kartoffel freuen. Es ist schön zu ernten, was man gemeinsam gesät hat.“