Wenn am 26. März mindestens 612.000 von rund 2,4 Millionen Wahlberechtigten in Berlin mit „Ja“ stimmen, ist der Volksentscheid „Berlin 2030 klimaneutral“ erfolgreich. Dann muss die Weltmetropole in sieben Jahren genauso viele Treibhausgase abbauen, wie sie verursacht.
Doch viele halten dieses Ziel zwar für wünschenswert, aber auch für unrealistisch. „Berlins Primärenergie stammt heute zu über 90 Prozent aus fossilen Quellen“, betont der Chef der Vereinigung der Unternehmensverbände Berlin/Brandenburg (UVB) Christian Amsinck. Eine Umstellung auf grüne Energie bis 2030 sei ein Ding der Unmöglichkeit.

Milliarden-Investionen nötig

„Allein die energetische Sanierung aller Berliner Immobilien würde 100 Milliarden Euro kosten. Hinzu kämen die klimaneutrale Umrüstung von Wärmeversorgung und Stromerzeugung, die Umstellung der Industrie auf null CO2-Ausstoß sowie die vollständige Umstellung des Verkehrs auf Elektromobilität“, erklärt Amsinck. „Grob geschätzt geht es um Investitionen von mehreren hundert Milliarden Euro – von den fehlenden Fachkräften ganz zu schweigen.“
Die Initiatoren des Volksentscheids selbst gehen von rund 113 Milliarden Euro aus. Der Senat hält eine seriöse Kostenschätzung derzeit für unmöglich.

Berlin braucht Brandenburg zur Stromgewinnung

In jedem Fall bräuchte Berlin vor allem auch das Flächenland Brandenburg, um die neuen Klimaschutzziele umzusetzen. Das hat sich die Klimaneutralität aber genauso wie der Bund erst zu 2045 auf die Fahnen geschrieben.
„Berlin hat sich ja noch nie alleine mit Strom versorgen können und muss in jedem Fall die Energiepartnerschaft mit Brandenburg intensivieren“, sagt Stefan Zimmer, Sprecher der Initiative Klimaneustart. Die Ausbaupläne Brandenburgs bei der Windenergie halte er aber jetzt schon für ausreichend. „Bei der Photovoltaik werden zusätzliche Freiflächenanlagen benötigt, die aber auch auf Flächen des Landes Berlin in Brandenburg gebaut werden könnten“, erklärt Zimmer.
Die „Energy Watch Group“ – ein internationales Netzwerk von Wissenschaftlern und Parlamentariern zur Untersuchung der Ausbaumöglichkeiten erneuerbarer Energien – hat dazu eine Studie durchgeführt. Für die Energieerzeugung zur vollständigen klimaschutzökonomischen Bedarfsdeckung in der Region Berlin/Brandenburg schreibt das EWG-Energieszenario die folgenden Ausbauziele fest:
  • Die Windkraftanlagen müssten von heute neun Gigawatt auf zwölf Gigawatt ausgebaut werden. Die Photovoltaik müsste von 0,1 Gigawatt auf 11,9 Gigawatt in Berlin und von 1,1 Gigawatt auf 27 Gigawatt in Brandenburg steigen, das entspricht 0,5 Prozent der Landesfläche.
    Im Windpark "Albertshof" der Berliner Stadtwerke bei Bernau (Barnim) erzeugen seit Anfang 2021 Windräder kommunalen Ökostrom für rund 31.000 Haushalte. Schon seit Beginn der Elektrifizierung hat Berlin Strom aus dem Umland bezogen und würde die Energiewende ohne Brandenburg nicht schaffen.
    Im Windpark „Albertshof“ der Berliner Stadtwerke bei Bernau (Barnim) erzeugen seit Anfang 2021 Windräder kommunalen Ökostrom für rund 31.000 Haushalte. Schon seit Beginn der Elektrifizierung hat Berlin Strom aus dem Umland bezogen und würde die Energiewende ohne Brandenburg nicht schaffen.
    © Foto: Patrick Pleul/dpa
  • Die Bioenergie müsste bis auf 3,3 Gigawatt erhöht werden. Derzeit gibt es in Brandenburg 23 große Festbrennstoffanlagen, die häufig in der Nähe von holzverarbeitenden Betrieben stehen. Die installierte elektrische Leistung der insgesamt 454 Biogasanlagen in Brandenburg beträgt derzeit rund 296 Megawatt. Zur Einordnung: ein Gigawatt sind 1.000 Megawatt, eine Million Kilowatt oder eine Milliarde Watt. Wer einenWasserkocher erhitzt, verbraucht je nach Model und Füllmenge 600 bis 3000 Watt.
  • Für die Geothermie bräuchte man einen Zuwachs von 0,7 Gigawatt. Zum Vergleich: Rund 400 Kraftwerke erzeugen weltweit in 30 Ländern mit Dampf aus der Erde Strom. Ihre Gesamtleistung liegt bei 16 Gigawatt. Dabei wird Energie über die Wärme in der Tiefe unter der Erde gewonnen. Die Inbetriebnahme der Anlagen gilt als recht teuer. Zum anderen muss die Wärmepumpe, die die Wassertemperatur erhöht, elektrisch betrieben werden.
Doch die EWG-Studie besagt, dass eine Vollversorgung mit erneuerbaren Energien günstiger für die Region ist als das derzeitige Energiesystem. „Dabei werden auch die zusätzlichen Abhängigkeiten von fossilen Energien abgeschafft und ein wesentlicher Beitrag für das Pariser Klimaschutzabkommen geleistet“, so Hans-Josef Fell, Präsident der Energy Watch Group und ehemaliger Bundestagsabgeordneter für Bündnis90/Die Grünen.

Klima-Initiative rechnet mit neuen Hightech-Ansiedlungen

„Brandenburg ist aber bei der Energiewende auch schon sehr weit, und die Bundesregierung möchte den Kohleausstieg ja ebenfalls bis 2030 vollziehen“, betont auch Volksentscheid-Initiator Zimmer. „Insgesamt rechnen wir mit der Ansiedlung neuer Industrien, wenn die beiden Bundesländer die Energiewende schneller vollziehen und Hightech-Industrien mit 100 Prozent erneuerbarem Strom versorgen können.“
Doch Zimmer sieht auch Grenzen. „In Berlin gibt es zahlreiche Alternativen zum eigenen Verbrenner-Auto, auf dem Land wird man länger darauf angewiesen sein.“ Auch bei der Wärmeversorgung sei es einfacher, ein bestehendes Fernwärmenetz auf emissionsfreie Quellen umzustellen, als in ländlichen Gebieten mit überwiegend dezentralen Heizungen.
Die Unternehmen, aber besonders auch die Energiewirtschaft in Brandenburg stellten sich auch ohne vorgezogene Zielmarken aus Berlin jetzt schon um, betont Burkhard Rhein, Abteilungsleiter Umwelt, Energie- und Infrastrukturpolitik bei den Unternehmerverbänden (UVB). Ein herausragendes Beispiel dafür sei die „GigawattFactory“.
Bis 2030 will die LEAG – ein Zusammenschluss der Lausitz Energie Verwaltungs GmbH, Lausitz Energie Bergbau AG sowie der Lausitz Energie Kraftwerke AG mit Sitz in Cottbus – einen grünen Kraftwerkspark auf dem ehemaligen Bergbaugelände in der Lausitz errichten. Investitionssumme: zehn Milliarden Euro. „Mit der gewonnenen Energie aus den neuen Windkraft- und Photovoltaik-Anlagen können künftig vier Millionen Haushalte in der Region versorgt werden“, erklärt Rhein. „Das ist schon eine Hausnummer.“
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Rechtlich bindend oder zahnloser Tiger?

Die derzeitige Gesetzeslage sieht vor, dass Berlin bis zum Jahr 2045 klimaneutral wird. Ist der Volksentscheid am Sonntag erfolgreich, wird dieses Datum auf 2030 nach vorn verschoben. Dafür schlagen die Initiatoren einige Änderungen in dem 36-seitigen Gesetzestext vor, wie zum Beispiel, dass schon bis 2025 der CO2-Ausstoß um 70 Prozent gegenüber 1990 gesenkt werden muss, bis 2030 dann um 95 Prozent.
Ist der Volksentscheid erfolgreich, gilt der Entwurf als angenommen und tritt sofort in Kraft.
Strittig ist jedoch die Frage, ob es zu Sanktionen gegenüber den politisch Verantwortlichen führen würde, wenn der Senat trotz neuem Gesetz die Klimaziele nicht erreicht. Die Initiative „Klimaneustart Berlin“ selbst hat keine in seinen Entwurf für den neuen Gesetzestext geschrieben. Allerdings können Bürger in ganz Deutschland vor dem Verfassungsgericht klagen, wenn das Berliner Gesetz nicht eingehalten werden würde.