„Nachts lag er da und war gierig nach ihr und bekam sie“, steht es auf dem kleinen Fetzen, den die junge Maria in ihrem Buch findet. Es ist ein Zitat Knut Hamsums. Einfache, klare Worte – typisch für den norwegischen Schriftsteller. Und doch enthalten sie so ziemlich alles. Das Archaische in der Anziehung zwischen ihr und Henner, der den Zettel im Buch hinterließ. Dessen gieriges Verlangen. Ihre bereitwillige Hingabe. Die animalische Sexualität, der sich beide ergeben.
Es ist eine aggressiv-sehnsuchtsvolle Liebesgeschichte, die Emily Atef in „Irgendwann werden wir uns alles erzählen“ in warmen Farbtönen inszeniert. Die Literaturverfilmung, die auf dem gleichnamigen Roman von Daniela Krien beruht, feierte am Freitag (17. Februar) auf der Berlinale Premiere, wo sie auch im Wettbewerb steht.

Orientierungslos auf den Wogen der Wendejahre

Film wie Roman führen in die ostdeutsche Provinz. Es sind die diffusen Jahre der Wende, dem Dazwischen, in dem alte Gewohnheiten zerbröseln und neue Ordnungen sich aufdrängen. Die gerade noch 18-jährige Maria (Marlene Burow) lebt mit der Familie ihres Freundes Johannes (Cedric Eich) auf deren Bauernhof. Statt zur Schule zu gehen, wo selbst das Lehrerkollegium nur zur Hälfte verblieben ist, treibt Maria orientierungslos auf den Wogen der Wendejahre.
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Zuflucht findet sie in Büchern. Lieber scheint sie Zeit mit Dostojewski und den Gebrüdern Karamasow zu verbringen als mit ihrem Freund. Der frisch gebackene Abiturient ist ohnehin fleißig am Planen der eigenen Zukunft als Fotograf. So lässt Maria immer häufiger den Blick über die Felder zum Nachbarhof wandern. Hinter dessen heruntergekommenen Gemäuern lebt der trinkfreudige Einbrödler und Pferdezüchter Henner (Felix Kramer). Der mag zwar älter als ihre Mutter sein, dennoch übt Henner auf Maria eine eigenwillige Anziehung aus.
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Wechselspiel aus körperlicher Poesie und vorzeitlichem Trieb

Maria sucht den Kontakt, bis sich die beiden schließlich näherkommen – mit ungehemmter Intensität. Durch konkrete Beschreibungen sexueller Intermezzi sorgte schon Daniela Krien mit ihrem Gegenwartsroman für Aufsehen. Regisseurin Emily Atef übersetzt die Textvorlagen in ein visuelles Wechselspiel aus körperlicher Poesie und vorzeitlichem Trieb. Es sind Darstellung rohen, rauen Sex, den sich Henner gut und gern bei seinen Deckhengsten abgeguckt haben könnte. Fast ist man erleichtert, wenn die Kamera den beiden einmal nicht ins Schlafzimmer folgt.
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„Ich hätte nicht gedacht, dass man so angstfrei in solche Szenen gehen kann“

Um das nötige Vertrauen zwischen den Darstellenden und dem Filmteam für die intensiven Szenen herzustellen, wurde eine Intimitätskoordinatorin hinzugezogen. Atef spricht auf der Berlinale-Pressekonferenz zur Premiere sogar von einer eingeprobten Choreografie. „Ich hätte nicht gedacht, dass man so angstfrei in solche Szenen gehen kann“, sagte Hauptdarstellerin Marlene Burow. „Das war eine schöne Erfahrung.“
Erarbeiteten gemeinsam sehr intensive Szenen: Schauspieler Felix Kramer (l-r), Regisseurin Emily Atef und Schauspielerin Marlene Burow auf der Berlinale.
Erarbeiteten gemeinsam sehr intensive Szenen: Schauspieler Felix Kramer (l-r), Regisseurin Emily Atef und Schauspielerin Marlene Burow auf der Berlinale.
© Foto: Monika Skolimowska/dpa
Die Szenen dürften vielen Zuschauerinnen und Zuschauern am deutlichsten in Erinnerung bleiben. Dabei ist ihre visuelle Dominanz fast zu bedauern. Sie drohen die ebenfalls gekonnte Inszenierung einer komplexen, subtilen, aber letztlich immer ehrlichen Beziehung zweier nur vermeintlich grundverschiedener Menschen zu überschatten. So teilen sich Maria und Henschel etwa auch eine tiefe Leidenschaft zur Literatur. Ihre brennende Sehnsucht zueinander wird auch deshalb zur Liebe. Einer schmerzlichen, tragischen Liebe.
„Irgendwann werden wir uns alles erzählen“ läuft am 18. Februar um 10 Uhr in der Verti Music Hall und um 15 Uhr im Haus der Berliner Festspiele. Alles zur Berlinale finden Sie auf unserer Berlinale-Themenseite.