Wildes Kreischen, als Jurypräsidentin Kristen Stewart im Schwanenkleid über den Roten Teppich geht – eine coolere, jüngere Jurypräsidentin gab es wahrscheinlich nie. Aber auch: Tücher, die mit „Woman Life Freedom“ Solidarität für die iranische Revolution ausdrücken. Und zwei einsame Klimaaktivisten, die relativ weit vom Eingang entfernt am Boden kleben.
Schon am Vormittag ist es da, das Berlinale-Feeling. Golshifteh Farahani, die wunderbare iranische Schauspielerin aus „About Elly“ und in diesem Jahr Mitglied der Wettbewerbsjury, sitzt auf dem Podium und erzählt, wie symbolhaft es sich für sie anfühlt, gerade jetzt in Berlin zu sein, in der Stadt, in der die Mauer fiel – während überall sonst, in ihrer Heimat Iran, in der Ukraine, in den Erdbebengebieten der Türkei und Syriens, die Welt zusammenzufallen scheine. Kunst, das sei für die Menschen im Iran wie Sauerstoff. Am Abend der Eröffnung wiederholt sie ihren bewegenden Appell mit voller Inbrunst – und erntet Jubel und Standing Ovations vom Eröffnungspublikum.
Das sind die Stars der Berlinale 2023

Berlinale 2023 Das sind die Stars der Berlinale 2023

Kristen Stewart, die am Morgen mit ihren dunklen Haaren im Wet-Look und dem müden Gesicht aussieht, als habe sie schon alle 19 Wettbewerbsfilme gesehen und darüber die ganze Nacht mit ihren Jurykollegen diskutiert und am Abend alle verzaubert, bekennt freimütig, sie sei zunächst geschockt gewesen, als die Einladung nach Berlin kam. Und doch so froh, jetzt gerade hier zu sein: „Wir leben in Zeiten, in denen wir uns quasi in einem emotionalen Schleudertrauma befinden.“ Gerade in solchen Zeiten seien Filme ein gutes Mittel gegen Gefühle der Ohnmacht.
Jurypräsidentin und Schauspielerin Kristen Stewart (USA, r) und Schauspielerin Golshifteh Farahani (Iran, l) nehmen an der Pressekonferenz der Internationalen Jury teil. Die 73. Internationalen Filmfestspiele finden vom 16. bis 26. Februar 2023 in Berlin statt.
Jurypräsidentin und Schauspielerin Kristen Stewart (USA, r) und Schauspielerin Golshifteh Farahani (Iran, l) nehmen an der Pressekonferenz der Internationalen Jury teil. Die 73. Internationalen Filmfestspiele finden vom 16. bis 26. Februar 2023 in Berlin statt.
© Foto: Jens Kalaene/dpa
Und der legendäre Hongkong-Film-Regisseur Johnny To betont: „Gerade Diktaturen sind gegen den Film, weil Film, weil Kino so eine enge Verbindung zum Publikum, zu den Menschen hat. Es gilt weltweit: Wenn man um Freiheit kämpfen will, dann muss man sich einsetzen fürs Kino, für den Film.“

Grußbotschaft von Wolodymyr Selenskyi

Soviel zur Politik auf dem politischsten der drei großen Filmfestivals Venedig, Cannes und Berlin. Dazu passt der Schwerpunkt auf Filmen aus der Ukraine und dem Iran, und die Tatsache, dass der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyi am Abend zur Eröffnung eine Videobotschaft sendet, anmoderiert vom US-Schauspieler Sean Penn, der seinen Dokumentarfilm „Superpower“ über das Kiew der ersten Kriegstage auf dem Festival präsentiert. Er hat am 23. Februar 2022 ein Treffen mit Selenskyi gehabt, erzählt Penn bei der Eröffnung des Festivals – und am 24. Februar noch eins, da sei die Weltl ganz anders gewesen.
Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine, spricht per Video-Leinwand zu den Besuchern der Eröffnung der Berlinale.
Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine, spricht per Video-Leinwand zu den Besuchern der Eröffnung der Berlinale.
© Foto: Monika Skolimowska/dpa
Selenskyi, der per Video zugeschaltet ist, erinnert an Wim Wenders „Himmel über Berlin“ und daran, dass der Regisseur zwei Jahre vor dem Fall der Mauer die Engel über die Mauer geschickt habe – heute sei es Russland, das wieder Mauern errichten wolle. Und auch die Kultur müsse sich entscheiden, auf welcher Seite sie stehen wolle, ob sie sprechen oder schweigen wolle. Die Berlinale habe sich entschieden, und dafür danke er von Herzen.

Solidarität mit den Frauen im Iran und den Erdbebenopfern in Syrien und der Türkei

Auch Kulturstaatsministerin Claudia Roth würde einen Preis am liebsten dem Menschen in der Ukraine verleihen, die jetzt nicht im Scheinwerferlicht über den Roten Teppich schreiten, sondern in Kellern und Metrostationen ausharren müssen, erinnert aber auch an die Frauen im Iran und die Erdbebenopfer in der Türkei und in Syrien. Und auch Franziska Giffey verspricht, dass Berliln, die Stadt der Freiheit, als Schallverstärker wirken möchte für alle, die noch für Freiheit kämpfen.

Stadt der Pannen und des Streiks

Aber auch das ist Berlin: Das Festivalzentrum am Potsdamer Platz ist mit öffentlichen Verkehrsmitteln kaum erreichbar – die S-Bahn hat Schienenersatzverkehr eingerichtet, die U-Bahn pendelt zum Alexanderplatz. Hinzu kommt am Freitag der Flughafenstreik, sodass die Festivalleitung besorgt ist, ob die geladenen Gäste überhaupt alle anreisen können: Mariette Rissenbeek, die Geschäftsführerin der Berlinale, erklärte, die Gästeabteilung werde wie wild daran arbeiten, dass andere Lösungen gefunden würden. Vielleicht müssten Gäste auf andere Flughäfen ausweichen, und dann müsse man mit Zugverbindungen denken. „Das ist eine große Herausforderung, das will ich jetzt nicht verschweigen.“

Kinostreik für Berlinale-Kinos angekündigt

Und zu allem Überfluss kündigt Verdi am Tag der Festivaleröffnung noch Warnstreiks bei der Yorck Kino GmbH in Berlin an – am Abend stehen Demonstranten vor den Arkaden am Potsdamer Platz. Unter anderem seien das Filmtheater am Friedrichshain sowie die Kinos Blauer Stern und International als Spielstätten der Berlinale betroffen. Gewerkschaftssekretär Jörg Reichel kündigte zugleich eine Kundgebung und Streikversammlung zur Eröffnung der Berlinale am Abend in der Nähe der Eröffnungsgala an und warnte die Berlinale-Leitung davor, Streikbrecher einzusetzen.
Willkommen also in der Stadt der Politik, der Pannen und der Proteste: Dass Franziska Giffey, die als Regierende Bürgermeisterin von Berlin neben Kulturministerin Claudia Roth das Festival am Donnerstagabend eröffnet, nach der Berlin-Wahl vom Sonntag um ihren Posten bangen muss, passt da aufs Schönste ins Bild.

Eröffnungsfilm „She Came to Me“

Komponist mit Schreibblockade: Peter Dinklage im Eröffnungsfilm "She Came to Me"
Komponist mit Schreibblockade: Peter Dinklage im Eröffnungsfilm „She Came to Me“
© Foto: Protagonist Pictures/Berlinale/dpa
Auch passt, dass der Eröffnungsfilm „She Came to Me“ von Rebecca Miller zwar gut gemeint, aber leider nicht wirklich gut ist. Eine bunte Gesellschaft findet sich auf einem Schlepperkahn auf dem Hudson River in New York zusammen: Kapitänin Katrina (Marisa Tomei), die süchtig nach Romantik ist und sich in den kleinwüchsigen Komponisten Steven (Peter Dinklage) verliebt. Stevens Therapeutin und Ehefrau Patricia (Anne Hathaway), die einen Putzfimmel hat und von einem Leben als Nonne träumt. Und ihr Sohn aus erster Ehe Julian (Evan Ellison), der eine Teenager-Romanze mit seiner Klassenkameradin Tereza (Jane Harlow), Tochter von Patricias polnischer Reinigungskraft Magdalena (Joanna Kulig), unterhält.
Schauspielerin Anne Hathaway (USA, 2.v.r) gibt vor dem Photocall für den Film «She came to me» Autogramme für Fans. Der Film ist der Eröffnungsfilm der Berlinale. Die 73. Internationalen Filmfestspiele finden vom 16. bis 26. Februar 2023 in Berlin statt.
Schauspielerin Anne Hathaway (USA, 2.v.r) gibt vor dem Photocall für den Film «She came to me» Autogramme für Fans. Der Film ist der Eröffnungsfilm der Berlinale. Die 73. Internationalen Filmfestspiele finden vom 16. bis 26. Februar 2023 in Berlin statt.
© Foto: Jens Kalaene/dpa
Sie alle finden, auf der Flucht vor Magdalenas reaktionär-gewalttätigem Ehemann Trey (Brian d’Arcy James) auf dem Schlepper wie auf einer Arche Noah zusammen. Alle sind Beschädigte, leiden unter Schreibblockaden, Panikattacken, Psychosen oder falsch diagnostizierten Sehnsüchten. Und sie alle schlösse man sofort ins Herz – wenn nicht die Story so konstruiert wäre. Trotzdem ist der Film mit seinem Plädoyer für Menschlichkeit kein schlechter Eröffnungsfilm. Bessere werden hoffentlich folgen.
„She Came to Me“ läuft am 17. Februar um 14.30 Uhr und 17.30 Uhr in der Verti Music Hall. Alles zur Berlinale finden Sie auf unserer Berlinale-Themenseite.