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Berlinale 2023: Regisseur Lars Kraume über den deutschen Kolonialismus – „Der vermessene Mensch“
Der Völkermord an den Nama und Herero steht im Schatten späterer Großverbrechen Deutschlands. Regisseur Lars Kraume erzählt in „Der vermessene Mensch“ dieses erschütternde Stück deutscher Kolonialgeschichte – zum ersten Mal im Film.
So kann man eine koloniale „Heldengeschichte“ auch erzählen: als Geschichte einer moralischen Degeneration. Als umgekehrten Bildungsroman gewissermaßen. Regisseur Lars Kraume zeigt in „Der vermessene Mensch“, wie ein junger Wissenschaftler zwischen Idealismus und Opportunismus schwankt und dadurch immer tiefer in die Abgründe des kolonialistischen Machtapparates des Kaiserreiches gerät.
Dafür hat Kraume sich ein denkbar schwieriges Thema ausgesucht: Es geht um den Völkermord an den Nama und Herero in der damaligen Kolonie Deutsch-Südwestafrika zwischen 1904 und 1908, im heutigen Namibia. Bis zu 70.000 Menschen töteten die kaiserlichen Schutztruppen, oder trieben sie, wo sie nicht selbst Waffengewalt einsetzten, buchstäblich in die Vernichtung. In der Kalahari-Wüste fanden etliche Tausende von ihnen einen grauenvollen Tod. Die meisten verdursteten im endlos weiten Omaheke-Gebiet an der Grenze zum heutigen Botswana, wo sie Schutz im britischen Protektorat suchen wollten.
Erst im Mai 2021 hat Deutschland die Greuel von damals in einem Abkommen mit Namibia offiziell als Völkermord anerkannt – und ein Hilfs- und Wiederaufbauprogramm in Höhe von 1,1 Milliarden Euro zugesagt. Einige literarische Bearbeitungen dieses dunklen Kapitels der deutschen Geschichte gibt es, etwa den Roman „Morenga“ (1978) von Uwe Timm über den gleichnamigen Guerilla-Führer der Herero und Nama. Oder den Schmöker „Herero“ von Gerhard Seyfried (2003). Es mag schwer vorstellbar sein, aber „Der vermessene Mensch“ ist tatsächlich der erste Kino-Spielfilm, der den Genozid an den im heutigen Namibia lebenden Volksgruppen durch das deutsche Kaiserreich zum Thema hat.
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Wie packt Lars Kraume – der Regisseur feiert dieser Tage seinen 50. Geburtstag und ist durch den in Eisenhüttenstadt gedrehten Film „Das schweigende Klassenzimmer“ noch gut in Erinnerung – dieses heiße Eisen der deutschen Geschichte an? Er sucht sich als Protagonisten einen (fiktiven) idealistischen Wissenschaftler, der seinen Untersuchungsgegenständen vorurteilsfrei, neugierig und offen gegenübertreten will. Alexander Hoffmann (Leonard Scheicher) ist der Sohn eines Ethnologen, der auf einer seiner Forschungsreisen von Einheimischen getötet worden ist. Hoffmann will das Werk des Vaters fortführen und hat es zum Assistenten an der Kaiser-Wilhelm-Universität in Berlin gebracht.
Erste Risse bekommt sein Idealismus, als sein Förderer Professor von Waldstätten (Peter Simonischek) seine Studenten auffordert, sich in eine geplante „Völkerschau“ mit nach Deutschland verfrachteten Menschen aus den deutschen Kolonien einzuklinken. Für jeden Studenten stellt er ein persönliches „Objekt“ in Aussicht – will heißen: Der akademische Nachwuchs soll Schädelvermessungen an der angereisten Gruppe der Nama, Herero und San vornehmen. Unter den angereisten „Schauobjekten“, die unter der vorgespiegelten Aussicht, dort studieren zu können, nach Berlin gelockt worden sind, ist auch Friedrich Maharero (Anton Paulus), der Sohn eines Königs in seiner Heimat.
Der Nachwuchsforscher rüttelt an den Fundamenten
Die folgenden Bilder von den „Untersuchungen“ sind schwer zu ertragen. Cranologie, also das penible Vermessen von Schädeln, mit dem Ziel, auf Intelligenz und Charaktereigenschaften zu schließen, war tatsächlich einmal anerkannte Praxis in der Wissenschaft. Der Film beschönigt nichts, sondern dokumentiert nüchtern den kolonialen Rassismus, der damals Gang und Gäbe in der deutschen Wissenschaft war.
Alexander Hoffmann macht bald die Erfahrung, dass der Weg zu einer akademischen Bilderbuchkarriere darüber führt, vorherrschende Ansichten mitzutragen, sie nicht in Frage zu stellen. Die evolutionäre Rassenlehre bildet das ideologische Fundament des Kolonialismus; aus diesen vermeintlichen wissenschaftlichen Erkenntnissen leiten die Kolonialmächte ihren Anspruch darauf ab, die einverleibten Regionen der Welt zu „entwickeln“, sie einer als höher erachteten Stufe der Zivilisation zuzuführen.
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Alexander Hoffmann fühlt sich zu einer der Frauen aus der Gruppe hingezogen – es ist schließlich ein Spielfilm. Da bedarf es großer Gefühle, oder zumindest einer Andeutung davon. Kezia Kunouje Kambazembi (Girley Charlene Jazama) ist klug und verfügt über ein Maß an Bildung, das Hoffmann einer „Wilden“ aus Deutsch-Südwest nicht zugetraut hätte.
Der Forscher sieht sich durch die Begegnung mit ihr in der Hypothese bestätigt, dass die Unterschiede zwischen verschiedenen Ethnien auf der Welt nicht biologisch-rassisch, sondern lediglich durch kulturelle Prägung und das soziale Umfeld determiniert sind. Das führt ihn in den Widerspruch zur offiziellen Deutung im Deutschen Kaiserreich um die Wende zum 20. Jahrhundert.
Ein fataler Befehl von Genral von Trotha
Die Begegnung mit Kambazembi soll Hoffmann nicht mehr loslassen. Er wartet auf seine Chance, nachdem die Gruppe längst wieder abgereist ist. Auf einer Forschungsreise nach Deutsch-Südwestafrika gerät er mitten in die Nachbeben der Revolte, die die einheimischen Volksgruppen gegen die deutsche Besatzungsmacht anzetteln. Er wird Zeuge des fatalen Befehls von General von Trotha, mit dem dieser den Aufständischen den Status als Untertanen des Kaisers aberkennt und ankündigt, keine Gefangengen mehr zu machen.
In dieser Situation lässt der junge Ethnologe sich auf einen unheilvollen Schwenk ein. Um seine wissenschaftliche Karriere zu retten, versucht Alexander Hoffmann, einen Mittelweg einzuschlagen – er sammelt reihenweise Schädel von umgekommenen Nama und Herero und versendet sie nach Berlin. Er wird, auch wenn er in anderer Absicht gekommen sein mag und ohne dass ihm das sogleich gewahr wird, selbst Teil des Herrschaftsapparates.
Der Spielfilm zur Debatte um Restitution und Beutekunst
Dieser Film ist die Kino-Übersetzung der laufenden Debatten um Restitution von kolonialen Beutegütern. Bis in die Dialoge hinein ist der Sound den aktuellen Kontroversen um kulturelle Aneignung und Postcolonial Studies abgelauscht. So etwa, wenn die angereisten Nama und Herero in Berlin beim Kartenspiel mit dem neugierigen Forscher deutlich machen, dass sie ebenfalls Fragen haben und ein Gespräch auf Augenhöhe wollen. Für ihn sei es vollkommen unverständlich, dass immer noch damals erbeutete Schädel in den Depots der deutschen Museen lagerten, gibt Regisseur Lars Kraume beim Publikumsgespräch zu.
Mit seinem komplexen, weit gespannten erzählerischen Bogen trägt der Film über knapp zwei Stunden: Die Geschichte verfängt, man bleibt gebannt dran. Und obwohl der Film aus deutscher Perspektive erzählt ist – alles andere hätte Lars Kraume als Versuch einer unzulässigen kulturellen Aneignung abgelehnt, wie er bei der Uraufführung im Haus der Berliner Festspiele sagt – wird hier nicht die deutsche Version der Geschichte festgeschrieben. Der in Berlin lebende Filmemacher hat sich intensiv mit der Materie beschäftigt, hat mit Experten und Nachfahren der Opfer in Namibia gesprochen, und der Schriftsteller Uwe Timm hat ihn bei Drehbuch und Dreharbeiten beraten. In der kommenden Woche reist das ganze Filmteam nach Namibia, um den Film dort vorzuführen und zu diskutieren.
Ein Kolonialismus-Film ist keine Liebesgeschichte
Es sind keine schönen Bilder, darüber sollte man sich vor dem Film im Klaren sein. Als ein fiktionales, gleichwohl bei den Fakten bleibendes Dokument über die kolonialen Verbrechen Deutschlands ragt dieser Film allerdings in der Tat heraus.
Und die Romanze, die sich zu Beginn des Filmes abzeichnet? Nur soviel sei verraten: In diesem Film kann manches nicht so ablaufen, wie es aus dem herkömmlichen Unterhaltungsfilm bekannt ist. Das macht auch Girley Charlene Jazama, die namibische Darstellerin der Kezia Kambazembi, beim Publikumsgespräch deutlich: Eine Liebesgeschichte zwischen einer Herero-Frau und einem Deutschen war in dieser historischen Situation definitiv keine Option.
„Der vermessene Mensch“ am 23.2. um 15 Uhr im Haus der Berliner Festspiele und am 24.2. um 9.30 Uhr in der Verti Music Hall.
Alles Wichtige zur Berlinale 2023 ist auf einer Themenseite zu finden.