Micha Winkler erregt Aufsehen, wo immer er unterwegs ist. In London zum Beispiel wollte er vom Eingang der Parlamentsgebäude aus Big Ben fotografieren und hatte gerade sein Stativ aufgebaut. „Da kam ein Bobby, ein Polizist um die Ecke“, erzählt der Fotograf schmunzelnd, „schaute genau hin und fragte: ,Ist das ein Pinhole?‘“ Pinhole wird das stecknadelgroße Loch einer Camera Obscura in England genannt. Dann sei der Polizist plötzlich weggerannt. Er habe sich gedacht, na, mal sehen, was jetzt passiert. Aber der Polizist kam mit drei Kollegen wieder und zeigte ihnen begeistert die Apparatur.
In Rom hingegen sei ein Carabinieri gekommen, damals hatte Winkler sich eine Kamera aus einer Keksdose gebaut und wollte damit das Monument Vittorio Emanuele II. fotografieren. Der Polizist habe ihn belehrt, dass das Foto so überhaupt nichts werden könne, und von dem Standpunkt aus schon gar nicht. Das sei einfach nicht professionell, habe er dem Fotografen erklärt.
Wo Winkler auftaucht, gibt es neugierige Fragen
Lochkamera, Camera Obscura: älteste Fototechnik der Welt, und bis heute offenbar faszinierend. Wenn Winkler auftaucht, mit seinen selbst gebauten Fotokästen, die er gern mal an eine Wand lehnt, oder an eine Kaffeetasse, statt ein Stativ zu benutzen, ist das immer ein Anlass für neugierige Fragen. In der Anfangszeit, in den Neunzigerjahren, sei das Aufsehen noch viel stärker gewesen, erzählt der Fotograf. Damals kannte noch keiner eine Camera Obscura, es gab auch keine Literatur dazu. Heute ist Lochbildfotografie fast eine Mode geworden, es gibt solche Kameras in Fotoläden zu kaufen, ja es geht so weit, dass Winkler eine Zeitlang überlegt hat, die Technik nicht mehr zu benutzen: „Ist ja peinlich, das macht ja jetzt jeder“, habe er gedacht. Es sei ein bisschen wie mit Polaroids – die seien auch weg gewesen, und plötzlich wollten alle wieder mit Polaroids arbeiten.
Ein Besuch in seinem Atelier in Elisenau bei Ahrensfelde ist wie eine Reise in die Fotogeschichte, halb Wunderkammer, halb Fotolabor. Verschiedene Apparate Marke Eigenbau stehen im Raum, bei Bedarf holt Micha Winkler historische Fotos hervor, oder gewährt einen Einblick in sein Archiv. Inzwischen bearbeitet er seine Fotos digital am Computer, Fotopapier sei zu teuer geworden, und nun hat Orwo auch noch die Filmproduktion eingestellt. Aber wenn es um Haltbarkeit geht, schwört Winkler immer noch auf analoge Fotografie. Bei digitalen Abzügen veränderten sich die Farben, und wer weiß, wie lange Daten, die er auf drei Festplatten sichert, überdauern. Analoge Fotografie gibt es immerhin schon seit über hundert Jahren.
Schon als Kind hat er sich als Fotograf verkleidet
Fotografie hat ihn schon immer interessiert, erzählt er, schon als Kind hat er sich zu Karneval als Fotograf verkleidet, mit einem Schulfreund zu DDR-Zeiten fotografiert er später im Labor Bravo-Hefte ab, um sich die erste Spiegelreflexkamera zu verdienen. Dann kam die Berufsausbildung und parallel die Teilnahme an Fotoclubs und dann auch die Leitung von Fotozirkeln in Weißensee und anderswo. Er legte Film zum Entwickeln im Schlafsack in die Entwickler-Dose, näht sich mit einem Freund und Kollegen ein Dunkelkammerzelt, um Experimente mit Kollodium-Fotos zu unternehmen.
Micha Winkler wird hauptberuflicher Fotograf, arbeitet an Theatern, und für verschiedene Zeitungen und Magazine, ab 2012 auch für die Lokalausgabe Bernau der Märkischen Oderzeitung. Streetfotografie interessiert ihn, der Umgang mit Menschen, auch Musiker fotografiert er besonders gern und seit vielen Jahren. Doch parallel ist ein künstlerisches Werk entstanden. Aktuell ist es in einer Ausstellung in der Rathausgalerie in Hoppegarten zu sehen, Ende des Jahres soll es eine Ausstellungsbeteiligung in der Galerie Bernau geben.
In der Galerie Bernau fing er mit Lochbildfotografie an
Dort, in der Galerie Bernau, fing es auch mit der Lochbildfotografie an. Winkler, der in den 1990er Jahren zum engagierten Team des renommierten Kunstorts gehörte, hat dort Workshops gegeben und mit Teilnehmern Lochkameras aus Kartons gebastelt, mit denen sie dann vor Ort Fotopapier belichtet haben. Eine nette Spielerei, hatte er zunächst gedacht – doch dann hat er die Ergebnisse der Workshops gesehen und sich überlegt: „Das könnte mehr sein“.
Seitdem fotografiert er mit seinen selbstgebauten Lochkameras, bevorzugt auf Reisen, die er mit seiner Frau unternimmt: London, Rom, Paris, gerade sind sie aus Oslo zurückgekommen. Manchmal ist es eine alte Kamera, aus der er Linse und Innenleben entfernt hat, manchmal ein länglicher schwarzer Pappkasten, oder eben eine Keksdose. Das Prinzip ist immer gleich: ein dunkler Innenraum (Camera Obscura), ein Film, und ein kleines Loch, das für die Belichtung dient, mehr braucht es nicht.
Die simple Technik zaubert Sehenswürdigkeiten, viel Himmel, Wolken, Regentropfen aufs Papier, Menschen, die wie Schatten durchs Bild huschen, alles in Schwarz-Weiß, inzwischen manchmal auch in Farbe, da sei er selbst überrascht, wie leuchtend das Ergebnis ist, erzählt der Fotograf.
Früher haben die Fotografen ihren Hut vor das Loch gehalten, ihn dann weggenommen, und gezählt. Zählen tut Winkler noch heute, 21, 22, 23, er hat das inzwischen im Blut. Besser als jede Stoppuhr funktioniert das, und wenn er einmal vergisst, den Verschluss wieder zuzumachen, entstehen auch interessante Effekte.
So habe er einmal auf der Oxford Street in London ein Gebäude fotografiert, und plötzlich sei ein Bus dazwischengekommen. Er habe die Hutblende geschlossen und gewartet, bis der Bus weg war, und dann das Gebäude zu Ende belichtet. Als er das Foto entwickelt habe, sei der Bus zu sehen gewesen, mit allen Insassen, aber durchsichtig. Da habe er gemerkt, dass es ihn interessiert, Menschen ins Bild zu bekommen. Auf einem Bild, „Kopflos in London“, steht ein Tourist vor der Tower Bridge und hat keinen Kopf. Weil er den Kopf so sehr hin und her bewegt hat, dass der Kopf auf dem Foto nicht mehr zu sehen ist.
Die Kunstpreis-Serie entstand in Cornwall
Die beiden Fotografien, mit denen Micha Winkler nun den Brandenburgischen Kunstpreis 2022 gewonnen hat, sind mit einer umgebauten Kamera entstanden, in Cornwall am Strand. Man erkennt Menschen, Boote, Vögel, Wolken, aber in einer eigenartig flüchtigen, leicht bedrohlichen Atmosphäre. Das Weiche, das Malerische schätzt Winkler an den Lochbildfotografien, und dass es keine Fokussierung gibt, sondern die gleiche Schärfe oder Unschärfe von ganz nah bis unendlich.
Der Effekt der verstreichenden Zeit, die sich in das Foto einschreibt, fasziniert Winkler: „Man kann in einer Bildwelt mehrere Bilder erzählen, wie ein kleiner Film. Weil da durch die lange Belichtung Zeit drinsteckt. Menschen werden zu Schemen, weil sie sich bewegen, oder bleiben sichtbar, weil sie stillstehen.“ Der Effekt sei, dass man manche Orte gar nicht einordnen könne, nicht sagen kann, wann das Bild gemacht ist.
„After the War“ hat Winkler das eine Bild daher genannt. Welcher Krieg das ist, bleibt dem Betrachter zur Entscheidung überlassen, aber der Fotograf hat den Titel bewusst gewählt, 70 Jahre nach einem Krieg, der ganz Europa verwüstet hat. Fotografie sei die „Gewalt des Augenblicks“, hat Henri Cartier-Bresson gesagt, Winkler zitiert ihn gern. Mit seiner Lochkamera lotet Micha Winkler diesen Augenblick zwischen Vergangenheit und Gegenwart aus.
Alles zum Brandenburgischen Kunstpreis finden Sie auf unserer Themenseite.
Ausstellung in Hoppegarten
Lochbildfotografien von Micha Winkler sind noch bis 19. August in der Ausstellung „Mit der Camera Obscura durch Europa“ in der Rathaus Galerie Hoppegarten zu sehen. Am 19. August wird dort um 19 Uhr Lutz Pehnerts Filmporträt über Bettina Wegner gezeigt.