„Wald“ hat Kirstin Rabe ihre erste größere Papierarbeit 2012 genannt. Lange durch den Wald fahren muss auch, wer sie in ihrem Atelier auf dem Künstlerhof Frohnau besuchen will. Die ehemalige Außenstelle der Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik im Norden Berlins, die der 2018 gestorbene West-Berliner Künstler und Kulturpolitiker Dieter Ruckhaberle vor 25 Jahren in ein Kunst- und Ateliergelände umwandelte, ist noch immer ein verwunschenes Terrain. Ruckhaberles Bilder lagern noch im Keller, seine Bibliothek steht ungeordnet auf den Fluren des langgestreckten Gebäudes.
Zum 25. Jubiläum ist dem Künstlerhof gerade eine Ausstellung in der Rathaus-Galerie in Reinickendorf gewidmet. Auch Kirstin Rabe hat dazu eine Arbeit beigetragen, für die sie Schriftstücke Ruckhaberles geschreddert und das Papier zu Platten gegossen hat. Eine Installation aus hellen und dunklen Flächen ist entstanden, ein Archiv, das nicht mehr lesbar ist, aber seine Inhalte im Material konserviert.
Ein Ort der Ruhe
„Für mich ist das hier wie ein Reset“, erzählt Kirstin Rabe beim Besuch in Frohnau. Ein Ort, an dem man zur Ruhe und zum Arbeiten kommen kann. Und gar nicht so weit weg von Schildow im Mühlenbecker Land, wo die 1971 in Hamburg geborene Künstlerin mit ihrer Familie lebt. Berlin-Wedding, wo sie zuvor ihr Atelier hatte, habe sie am Ende sehr angestrengt, gibt Rabe zu: der Lärm der Großstadt, die Parkplatzsuche …
In Frohnau, unweit des ehemaligen Mauerstreifens und der Berlin-Brandenburgischen Landesgrenze, steht ihr seit 2016 ein helles Atelier zur Verfügung und, wenn gewünscht, viel Austausch mit den Künstlerkolleginnen. Eine davon treffen wir gleich im Eingangsgebäude. Sie gratuliert sehr herzlich zum Brandenburgischen Kunstpreis 2023.
Auch die Arbeit, mit der Kirstin Rabe den diesjährigen Preis in der Kategorie Grafik gewonnen hat, ist inspiriert von Wald und Natur, von langen Spaziergängen im Briesetal während des Lockdowns und der Corona-Pandemie. „Tiefen und Untiefen“ hat sie die Serie aus sechs Blättern genannt. Der Titel spielt mit der Vorstellung vom Sumpf, in dem man versinken kann, während andernorts Gräser in den Himmel wachsen. Doch in der Serie (Japantusche auf Papier) ist das Naturerlebnis reduziert auf abstrakte Linien, horizontale und vertikale Striche auf hellem Grund, die mit Fantasie Grasbüschel ahnen lassen.
Die Arbeiten entstehen nicht vor Ort, sondern erst später im Atelier, erzählt die Künstlerin: „Ich habe ein Bild im Kopf und reduziere es dann.“ Der Prozess des Arbeitens, die immer wiederkehrende Bewegung des Ziehens der Linien, das sei „unglaublich schön, fast meditativ“. Auf diese Weise entstehen intensive, dichte Blätter. Kirstin Rabe nennt sie die „Essenz eines verinnerlichten Seherlebnisses“.
Eigentlich arbeitet sie am liebsten mit Papier
Dass sie den Kunstpreis in der Kategorie Grafik gewonnen hat, überrascht Kirstin Rabe allerdings doch. Denn eigentlich ist sie bekannt für Objekte, die sie aus handgefertigten Papierblättern schichtet. Papier, das sie aus Altpapier und Baumwollzellstoff per Hand gießt und in ihrem Atelier auf einer Leine trocknet, mit unregelmäßigen Rändern und feinen Farbabstufungen. Am Ende werden daraus Wandreliefs, wie jene erste Installation „Wald“, die aus 1400 aufeinandergelegten Blättern bestand. Eine Kollegin hatte ihr einen Stapel Baumwollzellstoff überlassen. So fing alles an.
Es gibt aber auch kleinere „Schichtungen“, eine Arbeit aus der Serie „Horizonte“ ist gerade für das Willy-Brandt-Haus in Berlin vorgesehen, ein anderes in der Ausstellung in Neuhardenberg zu sehen. Oder „Schnürungen“, für die Rabe die schmalen Papierreste verwendet, die bei den anderen Arbeiten übrig bleiben. Aus einer Wanderung durch die Apuanischen Alpen in der Toskana entstand die Serie „Alpi Apuane“, die aus Papierrändern Bergrücken formt, die wie Wolken wirken.
Papier nicht als Träger, sondern als Material zu begreifen, das passt zum Konzept einer Künstlerin, die auch Pigment nicht als Farbe, sondern als Material einsetzt, etwa in einer frühen Arbeit, die „Kupferblau“ mal pudrig, mal verdichtet als Farbfeld auf eine Holzplatte setzt. Nicht von ungefähr fühlt sie sich auch den Künstlern der westdeutschen Gruppe ZERO verbunden.
Hommage an die verstorbene Mutter
Dass sie nun auch mit unverdünnter Japantusche und Papier arbeitet, verdankt sie einem Aufenthalt in Südkorea 2018, von wo sie einen Koffer voller Kalligrafiepinsel, Papier und Japantusche mitbrachte. Nach ersten kleineren Studien auf dem Papier entstanden die „Tiefen und Untiefen“, aber auch „Briefe an Ingrid“, eine Trauerarbeit und Erinnerung an die verstorbene Mutter. Auch aus dieser Serie sind einige Arbeiten nun in der Ausstellung in Neuhardenberg zu sehen.
Vielleicht hat es mit ihrer Ausbildung zu tun, dass Kirstin Rabe so konzentriert und konzeptuell vorgeht. Studiert hat sie 1993 bis 1998 Geodäsie, hat als Vermessungsingenieurin gearbeitet, bis sie nach einem Aufenthalt in Südkorea 2005 entschied, ein Studium der Freien Kunst an der privaten Schule für Gegenwartskunst „Kunstgut“ in Berlin aufzunehmen.
Das Kartografieren, das analytische Vorgehen habe ihr auch als Vermessungsingenieurin viel Spaß gemacht, nur die Arbeit im Büro am Computer sei dann doch „sehr trocken“ gewesen. Doch analytisch und akribisch geht sie auch in ihren künstlerischen Arbeiten vor: So hat sie immer lange im Voraus im Kopf, was als Nächstes kommt: „Ich habe immer einen Plan.“
An ihren Serien arbeitet sie oft jahrelang, erzählt Kirstin Rabe zum Abschluss, und gern an mehreren Themen gleichzeitig. So ist sie im vergangenen Jahr noch einmal auf das Thema Wolken zurückgekommen, mit dem sie sich seit 2014 beschäftigt. Doch ihre Arbeiten werden immer reduzierter, sagt sie selbst – Licht und Schatten spielen eine große Rolle, und statt der Horizontale, die sie, am Meer und in den Bergen, als Sehnsuchtsmoment beschäftigt hat, ist es gegenwärtig eher die Vertikale, die sie interessiert.
So sind es auch in „Tiefen und Untiefen“ weniger Fläche und Horizont, sondern Lotungen in Höhe und Tiefe, die sie in ihren Pinselstrichen vornimmt: „Die vertikale Anordnung entspricht mir gerade mehr als die horizontale. Da öffnet sich etwas.“
Biografie
Kirstin Rabe lebt und arbeitet in Schildow und Berlin; Mitglied des Berufsverbandes Bildender Künstler:innen Brandenburg, des Vereins Berliner Künstler und der International Association of Hand Papermakers and Paper Artists; 1971 in Hamburg geboren, 1993–1998 Studium der Geodäsie an der Fachhochschule Hamburg; 1998–2003 Tätigkeit als Ingenieurin; 2004–2005 Aufenthalt in Anyang/Südkorea; 2007–2010 Studium der Freien Kunst an der Kunstgut – Schule für Gegenwartskunst in Berlin; 2011 Teilnahme am Kunstprogramm secondhome projects in Berlin; Gasthörerin an der Universität der Künste (UdK) Berlin; seit 2016 Atelier im Künstlerhof Frohnau in Berlin; 2018 Teilnahme am Künstlerinnenaustausch Berlin–Gangneung/Südkorea
Sammlungen: Berlin, Deutscher Bundestag; Gangneung, Heo Gyun & Heo Nanseolheon Memorial Hall; Kleinmachnow, Sammlung Siegfried Grauwinkel; Privatsammlungen
Sammlungen: Berlin, Deutscher Bundestag; Gangneung, Heo Gyun & Heo Nanseolheon Memorial Hall; Kleinmachnow, Sammlung Siegfried Grauwinkel; Privatsammlungen