Es war vermutlich nur eine Frage der Zeit. Irgendwie war doch klar, dass dieser Film kommen musste: Lars Eidinger ist vermutlich der angesagteste, gefeiertste, meistdiskutierte Schauspieler aus dem deutschsprachigen Raum. Ein besonders fleißiger noch dazu: Angesichts seiner Präsenz auf Kinoleinwänden, Streaming-Plattformen und Theaterbühnen von Allgegenwart zu sprechen, grenzt sogar noch an Untertreibung.
Jetzt gibt es mit „Sein oder nicht sein“ eine Langfilm-Dokumentation über Lars Eidinger, die neuen Stoff für Gespräche liefert. Regisseur Reiner Holzemer hat den Berliner Schauspieler bei den Proben zur „Jedermann“-Inszenierung im Rahmen der Salzburger Festspiele 2021 begleitet. Er trifft ihn aber auch in Berlin, an der Schaubühne, zu dessen Ensemble Eidinger seit nunmehr 23 Jahren gehört. Er besucht mit ihm die Schauspielschule Ernst Busch, an der er seine Ausbildung bekommen hat. Er fährt mit ihm im Auto zu Probenterminen. Sinnigerweise nimmt Holzemer die Aufregung um die Person Lars Eidinger zum Ausgang seiner Fragen an den Mimen, er holt ihn bei der Suche nach Antworten quasi ins Boot und macht das Filmprojekt zu einer Meditation über die Frage, wie sich eine Persönlichkeit im Schatten ihres eigenen Ruhmes behaupten kann.
Reiner Holzemer, Jahrgang 1958, ist ein Experte für Künstler-Filmporträts und hat schon Projekte über die Fotografie-Legenden Walker Evans, August Sander und Anton Corbijn realisiert, aber auch über die Regisseurin und Autorin Caroline Link.

Lobende Worte von Isabelle Huppert und Juliette Binoche

Dieses Mal also Lars Eidinger, geboren 1976 und aufgewachsen in Berlin-Marienfelde im Süden der Insel West-Berlin. Ein Schauspieldozent schildert den jungen Studenten als eher schüchternen Typen, der erst in der unbedingten Fokussierung auf sein Spiel aufgeblüht ist.
Schauspieler Lars Eidinger kommt im Rahmen des 30. Filmfests Hamburg im Passage Kino zum Photocall des Films "Lars Eidinger - Sein oder nicht sein".
Schauspieler Lars Eidinger kommt im Rahmen des 30. Filmfests Hamburg im Passage Kino zum Photocall des Films „Lars Eidinger - Sein oder nicht sein“.
© Foto: Marcus Brandt/dpa
Eidinger selbst führt seinen Ehrgeiz und seinen unbedingten Willen zum Erfolg ins Feld. Er berichtet von Schul-Laufsportveranstaltungen, bei denen er unbedingt habe siegen wollen. Schlüsselmomente und erste wichtige Rollen passieren Revue. Hamlet, Richard III. – Eidingers große Bühnen-Erfolge werden en Detail gewürdigt und analysiert. Auch das Verhältnis zu seinem Stammregisseur und Lehrmeister Thomas Ostermeier an der Schaubühne wird hier mit erhellenden Zitaten von beiden beleuchtet. Von Eidingers französischen Filmpartnerinnen Isabelle Huppert und Juliette Binoche hat Holzemer würdigende Äußerungen abgegriffen.
Aber braucht die Filmwelt diesen Film wirklich, in dem es 90 Minuten lang um das Ego eines immer divenhafter agierenden Darstellers geht, der in seiner Rollengestaltung erkennbar auf stereotype Muster einschwenkt? Antwort: Ja, die Welt braucht diesen Film, weil sie besessen von Lars Eidinger ist. Weil sie ihm nur zu gerne aus der Hand frisst, was auch immer er ihr darreicht.

Glamouröse und angegammelte Outfits

In Erinnerung geblieben sind bis heute neben großen Rollen auch schillernde Auftritte, die manchmal schrill und unterhaltsam sind, manchmal aber auch arg in die Hose gehen. Beispiele für die erste Kategorie: Lustige Interviews auf Berlinale-Eröffnungsgalas, zu denen Eidinger mal im verwaschenen Slacker-Outfit, mal im exaltierten Glam-Anzug und mit lackierten Fingernägeln kommt. Oder seine legendären Party-Nächte in der Schaubühne, bei denen Eidinger sich als durchaus versierter DJ präsentiert.
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Manche Situationen wiederum legen nahe, dass sich da etwas hochgeschaukelt hat in der Beziehung des Schauspielers zu den Medien. Also, ein paar Momente aus der zweiten Kategorie: Da gibt es ein Interview auf einer Berlinale-Pressekonferenz, auf der Eidinger zu seiner vermeintlichen Arbeitswut und seiner Allgegenwart in Kino, Fernsehen und Theaterbühne befragt wird. Der Mime beantwortet die Frage derart emotional mit einer Schilderung seiner Leidenschaft für den Beruf und steigert sich dabei bis an den Rand des Tränenausbruchs in eine Reflexion der „vergifteten Atmosphäre“ in Gesellschaft und medialer Öffentlichkeit, dass ihm das als Larmoyanz und Selbstverliebtheit ausgelegt wird.
Oder sein „Aldi-Taschen-Gate“: Ebenfalls Anfang 2020 kocht ein Shitstorm hoch, nachdem Eidinger eine Designer-Tasche im Aldi-Look entworfen und sich damit vor einem Obdachlosen-Nachtlager hat fotografieren lassen. Kosten des Stückes, das in limitierter Auflage hergestellt worden ist: 550 Euro. Ist das Arroganz, Zynismus, Verächtlichkeit oder einfach ein etwas geschmackloses, missratenes Kunstprojekt? Solche Debatten-Anhängsel wird der Schauspieler nicht mehr los.

Im Gespräch ein Normalo, auf der Bühne ein Berserker

Während Lars Eidinger im persönlichen Gespräch und in Interviews, die ohne Kamera laufen, den Eindruck eines Durchschnittstypen macht, markiert er auf der Bühne umso mehr den Extrem-Darsteller, der immer über alle Grenzen hinausgehen will oder meint, darüber hinausgehen zu müssen. Den Bühnen-Berserker, den schreienden, brüllenden, nackten Erforscher seelischer Extremzustände. Den Zerstörer der Konvention, der sich immer bedingungs- und schutzlos allem ausliefern will.
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In seinen stärksten Momenten legt Holzemers Film diese Eigenart offen. Er zeigt, dass da jemand gefangen sein könnte in einem Korsett aus Erwartungshaltungen. Ganz so, als habe Eidinger den Eindruck, dass er die Geister, die er einst mit seinem exaltierten Auftreten rief, nun auch permanent füttern muss. Vielleicht, weil er der Öffentlichkeit den unkomplizierten 08/15-Typen, der Eidinger im persönlichen Gespräch eben auch oft ist – den Berliner von nebenan – nicht mehr zumuten mag.

Ein Hang zum Eskalieren

Da gibt es diese Probenszene von den Salzburger Festspielen – es geht um den „Jedermann“ – in der Eidinger die Situation eskaliert. Der Regisseur will einfach Anweisungen geben, Eidinger aber hat sich so sehr in seine Rolle hineingesteigert, dass er das überhaupt nicht akzeptieren kann. Er beharrt auf ungeteilter Aufmerksamkeit für sein Spiel, fühlt sich von den anderen Anwesenden verraten. Man würde ihm gern zurufen: „Komm` mal runter!“ Aber da ist es schon zu spät.
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War das wirklich schon eine emotionale Extremsituation, diese unbedeutende Probenszene? Oder war er verliebt in die Vorstellung, dass der Prozess des Rollenerarbeitens hier eine Eigendynamik entwickelt? Vielleicht auch, weil ja der Dokumentarfilmer mit seinem Team dabei war? Solche Momente schmerzen beim Zuschauen bis zur Fremdscham, sie machen diesen Film aber auch sehenswert, weil sie genau beobachtet sind.

Wie lange mag der Hype anhalten?

Jüngere Filme wie etwa „Die Zeit, die wir teilen“ – präsentiert auf der Berlinale 2022 – legen nahe, dass Lars Eidinger sich mit seiner Rollengestaltung in eine künstlerische Sackgasse manövrieren könnte. Weil er auch an der Seite der großen Isabelle Huppert, als Schriftsteller Tim Ardenne wieder den krassen, eskalierenden Typen geben muss. Aber wie kommt man raus aus dieser Falle? Kommt man da überhaupt heraus? Vielleicht bleibt da erstmal nur die Möglichkeit, die Welle so lange wie möglich zu reiten.
Omnipräsent: Der Schauspieler Lars Eidinger bei der Eröffnung der 73. Berlinale am 16. Februar 2023 auf dem Potsdamer Platz. Im diesjährigen Wettbewerb des Berliner Filmfestes war der Publikumsliebling nicht vertreten.
Omnipräsent: Der Schauspieler Lars Eidinger bei der Eröffnung der 73. Berlinale am 16. Februar 2023 auf dem Potsdamer Platz. Im diesjährigen Wettbewerb des Berliner Filmfestes war der Publikumsliebling nicht vertreten.
© Foto: Monika Skolimowska/dpa
Andererseits: Lars Eidinger reitet seine Welle schon sehr lange mit großem Erfolg. Und es sind viele starke Rollen dabei entstanden. Reiner Holzemers Dokumentation „Sein oder nicht sein“ ist ein willkommener Stoff zur Überbrückung für alle, die den Berliner Schauspieler im Wettbewerb der diesjährigen Berlinale vermisst haben.
„Lars Eidinger – Sein oder nicht sein“, D 2022, 92 Min., FSK ab 6