Nervenkitzel bis zur letzten Sekunde, und dann die Gewissheit: Die Hamburger Band Lord of the Lost vertritt Deutschland in diesem Jahr beim Eurovision Songcontest – mit einem deutlichen Punktevorsprung. 40 Prozent der Publikumsstimmen konnten die “Blood and Glitter”-Interpreten mit ihrer flammenden Pyroshow, ihren goldroten Glam-Outfits und dem so zarten wie gutturalen Metal-Gesang beim Vorentscheid in Köln für sich gewinnen.
„Wenn ich an das Finale denke, und besonders an die finale Punktevergabe, bekomme ich eine Gänsehaut. Wenn ich mir das Ganze dann nochmal auf Video anschaue, ballert es mir die Tränen in die Augen. Wahnsinn!“, beschreibt Schlagzeuger Niklas Kahl seine Erinnerung an den Abend.
Mit ihrem Auftritt konnten sie sich unter anderem gegen die Zweitplatzierten Ikke Hüftgold, Produzent des umstrittenen Schlager-Sommerhits “Layla”, und Solokünstler Will Church aus Bad Saarow (Oder-Spree) durchsetzen.
Nun beginnt für die Künstler, die mit ihrem extravaganten Style und den genreübergreifenden Songs in keine Schublade passen, die heiße Phase der Vorbereitungen für das Finale am 13. Mai in Liverpool (Großbritannien). Für die Musikschaffenden ein ganz neues Erlebnis in der 14-jährigen Bandgeschichte. „Wir machen uns aktuell viele Gedanken, wie wir die Show noch intensiver und größer machen können, schließlich ist die Bühne in Liverpool auch sehr viel größer! Lasst euch überraschen!“ In welchem Sinne es im großen Finale wie im dazugehörigen Musikvideo rote Farbe und Glitzer regnen wird, ob mit Pyroregen oder echtem Konfetti, sei derzeit noch in Planung.
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Die ESC-Veranstaltung steht unter dem Motto “United by Music” und soll den Ursprung des “Grand Prix Eurovision de la Chanson”-Wettbewerbs betonen, die Länder Europas mit einem gemeinsamen Fernseherlebnis näherzubringen, so die Veranstalter. Diese Zusammengehörigkeit wurde bereits beim Vorentscheid unter den neun Acts der unterschiedlichsten Musikgenres gelebt. „Die gesamte Woche vor dem ESC hatten wir unglaublich viel Spaß bei den Vorbereitungen und Proben, die wir gemeinsam mit den anderen Künstlern hatten. Allesamt wirklich großartige Talente und noch tollere Menschen!“, betont der 34-Jährige.

Spiel mit Kontrasten und Klischees

Auch die Gewinnersong-Zeile “We are all from the same blood” (übersetzt: “Wir sind alle vom selben Blut”) spiegelt die Weltoffenheit der Band hinsichtlich Herkunft, Geschlechter und sexueller Orientierung wider. Mit ihrer offenen Art und den genderfluiden Outfits bricht die Band mit Klischees und spielt mit Kontrasten: Zwischen klassischen Ensemble- oder Metal-Konzerten sowie -alben, kleinen Fantreffen und Clubtouren sowie großen Festivals wie dem Wacken Open Air ist Veränderung ihr Credo. So bedienen sie sich in ihren Songs verschiedenster musikalischer Elemente aus Glam, Wave, Dark-Rock, Gothic-Metal und Pop und kooperieren mit Musikgrößen wie Jasmin Wagner, bekannt als Blümchen oder Goldener Reiter-Künstler Joachim Witt. Aber auch regionale Künstler wie der Hamburger “Heaven Can Wait”-Chor, bestehend aus 33 Rentnern, zählen dazu.
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Kein Kompromiss für TV-Formate

Dabei kommt ihnen ihre klassische Musikausbildung zugute. Chris Harms, unter anderem Produzent des aktuellen Gold-Albums „Gesegnet und Verflucht“ von Nino de Angelo (bekannt durch: Jenseits von Eden), spielt seit seinem fünften Lebensjahr Violoncello. Die Karriere von Niklas Kahl, Sohn einer Musikerfamilie, begann ebenfalls im Alter von fünf Jahren, bereits mit 19 spielte er seine erste Europatour. Songwriting betreiben alle Musiker gemeinsam in kleinen Gruppen oder Bandcamps, oft unterstützt durch Crew und befreundete Kollegen, die längst Teil der Bandfamilie geworden sind.
Niklas Kahl erklärt: „Wir sind neben Arbeitskollegen beste Freunde. Wir sind untereinander transparent und kommunizieren. Das ist das A und O. Außerdem lassen wir uns von niemandem verbiegen, machen, was wir wollen, und sind dabei authentisch“, das sei auch Bedingung für den Auftritt im Fernsehen gewesen. „Wir schlüpfen in keine Rolle, wenn wir Musik machen. Wir sind einfach wir. Ich glaube, das merkt man nach außen und ist entsprechend ein großer Teil unseres Erfolges“, beschreibt er weiter.
Das sind unsere ESC-Finalisten: V.l.n.r Pi Stoffers, Niklas Kahl, Chris Harms, Gerrit Heinemann und Klaas Helmecke
Das sind unsere ESC-Finalisten: V.l.n.r Pi Stoffers, Niklas Kahl, Chris Harms, Gerrit Heinemann und Klaas Helmecke
© Foto: Rolf Vennenbernd/dpa
Die große Bühne und ein internationales Publikum sind für die Gruppe bestehend aus Schlagzeuger Niklas Kahl, Multiinstrumentalist Gerrit Heinemann, Bassist Klaas Helmecke, Gitarrist Pi Stoffers und Bandgründer und Sänger Chris Harms längst keine Seltenheit mehr. Nach Konzerten und Festivals in über 30 Ländern ist die Band zu einer Musikgruppe gewachsen, die sich auch außerhalb Deutschlands beweisen und auf weltweite Unterstützung vertrauen kann.
Dass ihnen das in Liverpool zugutekommen könnte, sieht auch Perkussionist Niklas Kahl, der seit 2017 Teil der Band ist, als einen nicht zu unterschätzenden Faktor. Bereits vor dem Vorentscheid habe sich gezeigt, wie gut die Fans und befreundete Bands und Veranstalter für ihre Favoriten einstehen und zusammenhalten können. Neben offiziellen Aufrufen zum Abstimmen, wurden WhatsApp-Gruppen sowie Fantreffen für sogenannte Power-Votings arrangiert.

Europa-Tour mit Iron Maiden

International bekannt wurden sie nicht zuletzt durch die stadionfüllende Europatour im vergangenen Jahr mit den Heavy-Metal-Legenden Iron Maiden, die Interviews zufolge persönlich auf die Band aufmerksam geworden sind und für dieses Jahr eine Fortsetzung der gemeinsamen Tour angefragt haben.
Die Aufregung ist vor dem Auftritt vor bis zu 200 Millionen Fernseh-Zuschauern dennoch eine ganz besondere, so Kahl: „Die Anspannung vor der Live-Show zum Vorentscheid war bereits enorm. Es war für uns das erste Mal im TV! Das haben wir zuvor nie gemacht. Wir haben aber nun gemerkt, dass wir auch das offenbar können und ob dann letztendlich eine Million oder 200 Millionen zuschauen, macht, denke ich, keinen Unterschied. So kenne ich es zumindest von unseren Konzerten. Da spielt die Anzahl der Zuschauer keine Rolle.“

Nummer-Eins-Hit in den Offiziellen Deutschen Charts

Mit ihrem gleichnamigen Album zum ESC-Hit “Blood and Glitter” konnte die Band zu Beginn des Jahres mit nur einer Woche Ankündigung und Vorverkauf ihr erstes Nummer-eins-Album veröffentlichen. Inspiration für das zehnte Studioalbum fand Produzent und Dozent Chris Harms im gleichnamigen Bildband des britischen, 2021 verstorbenen Fotografen Mick Rock, der durch seine Aufnahmen von Queen über David Bowie bis hin zu Iggy Pop Bekanntheit erlangte. „Wir hatten immer schon ein Faible für den Sound der 1980er Jahre. Chris kam irgendwann mit dem Buch und der Idee an, die wir alle super fanden! So entwickelten sich nach und nach Sound und Optik“, erklärt Kahl, der auch als Studioschlagzeuger für andere Künstler wie Ferris MC (Deichkind) und Schlagzeuglehrer tätig ist.

Band sieht sich mit Hass im Netz konfrontiert

Eine Band, die Kontraste aller Art bedient, muss sich jedoch vermehrt mit homophoben, verachtenden Kommentaren auseinandersetzen. „Das kann durchaus frustrierend sein, weshalb wir mittlerweile teils aufgehört haben, alle Kommentare zu lesen. Einige, meist witzige, Hasskommentare dringen dennoch bis zu uns durch - und manchmal machen wir da eine witzige Aktion draus.“ Jüngst kommentierte beispielswiese die frühere AfD-Politikerin Frauke Petry auf Twitter den ESC-Sieg der Band mit: „Kann mir nicht vorstellen, dass normale Bürger von diesen pinken Herren ‚vertreten‘ werden wollen.“ Die Band konterte daraufhin treffsicher: „Keine Sorge, Frauke, Euch ’normale Bürger‘ vertreten wir auch nicht. Haben wir nie, werden wir nie.“, sodass Petry kurzerhand ihren Post wieder entfernte.
Aus Bandkollegen sind beste Freunde geworden, die jede Erfahrung miteinander teilen, Hasskommentare ihrer Social-Media-Kanäle wie „Cringe Metal Band“ (Beschämende Metal Band) oder „Symbol of a dying Scene“ (Symbol einer sterbenden Szene) auf T-Shirts drucken, dessen Gewinne teils spenden und den “Hatern” mit Songs wie “Leave your hate in the comments” (Hinterlasse deinen Hass in den Kommentaren) den Wind aus den Segeln nehmen.

Über eine Million YouTube-Aufrufe

Mit dem Vorentscheid-Sieg kommt nun das gestiegene Interesse hinzu: Inzwischen verzeichnet das Video zu „Blood and Glitter“ auf YouTube über eine Million Aufrufe. Beste Voraussetzung für das große Finale: Zusätzlich wurde der Song über eine Million mal auf Spotify gestreamt und ist in zahlreichen Bestenlisten wie den Viral Charts aus Finnland und den MTV Germany Charts neu eingestiegen.
Sie rocken die Bühne: Mit Feuerelementen und Metalgesang brachte die Band die MMC Studios und Fans in Köln zum Beben.
Sie rocken die Bühne: Mit Feuerelementen und Metalgesang brachte die Band die MMC Studios und Fans in Köln zum Beben.
© Foto: Rolf Vennenbernd/dpa
Trotz der Zuversicht schaut Niklas Kahl aber auch mit einem emotionalen Aspekt auf das ESC-Finale: „Ich habe tatsächlich keinen besonderen Wunsch-Zuschauer. Es gibt lediglich einige Menschen, die leider nicht mehr unter uns weilen, von denen ich mir gewünscht hätte, dass sie die Möglichkeit haben, das Spektakel zu sehen und mitzuerleben.“ Er freue sich jedoch über jeden, der den blutglitzernden Beitrag sieht, mag und auch an dem Abend für seine Band abstimmt.