Herr Kelly, Sie haben Ihre erfolgreiche „B.O.A.T.S“-Tour für eine CD und DVD mitgeschnitten. Worauf legen Sie bei einer Konzertaufnahme besonderen Wert?
Wir leben in der Zeit des Streamings, wo Alben nicht mehr so relevant sind wie früher. Umso weniger dann noch ein Live-Album. Aber für mich gibt es keinen Ersatz für das Konzerterlebnis. Das gemeinsame Erleben von Livemusik ist nicht durch eine Studioproduktion zu erklären oder zu ersetzen. Kein Konzert ist exakt wie das andere; jeder Anwesende setzt eine eigene Note und so ist jeder Moment mit dem Publikum einzigartig. Man kann es nur persönlich erfahren, es ergreift alle Sinne und Emotionen. Deswegen ist es mir wichtig, dieses Erlebnis auf DVD und CD festzuhalten.
Wieso haben Sie sich ausgerechnet für das Konzert in der Dortmunder Westfalenhalle entschieden?
Die Westfalenhalle ist so etwas wie das Madison Square Garden von Deutschland und somit ein Meilenstein für mich als Künstler. Das wollte ich gerne dokumentieren. Von Westernhagen gibt es eine legendäre Live-Platte, die dort aufgenommen wurde. Auch Pink Floyd, U2 und Bruce Springsteen sind in dieser Halle aufgetreten. Wenn 10.000 Menschen deine Songs mitsingen, ist das ein unglaubliches Gefühl. Die Magie, die dabei entsteht, kann man gar nicht beschreiben.
Ist das Live-Spielen Ihre eigentliche Bestimmung?
Die Bühne ist für mich wie Wasser für einen Fisch. Aber das Songwriting ist das Fundament. Seit meinem neunten Lebensjahr schreibe ich Songs, und diese Songs live mit Menschen zu teilen, heißt für mich Vollkommenheit. Ich finde es faszinierend, was innerhalb weniger Stunden mit dem Publikum passiert. Bei einem Konzert treffen sich tausende Menschen, die einander fremd sind und benehmen sich so, als seien sie beste Freunde. Eine transformative Erfahrung. Menschen verschiedenster Ansichten und Anschauungen erfahren da ein positives Wir-Erlebnis. Es gibt nur wenige Orte in unserer Gesellschaft, wo so etwas möglich ist.
Ist es Ihr Anspruch, perfekte Konzerte zu spielen?
Wichtiger als eine perfekt einstudierte Show ist mir der Spirit, mit dem wir auftreten. Bevor ich auf die Bühne gehe, bilden meine Band und ich einen Kreis und ich gebe spontane Impulse: „Lasst uns diesen Menschen alles geben – unser Herz, unser Talent, unsere Leidenschaft.“ Das kostet Kraft und Schweiß, manchmal auch Überwindung. Nach einer Live-Show will ich fix und fertig sein. Das ist mein Job. Die Zuschauer können sich zwei, drei Stunden lang selber spüren, und ihr Leben feiern, mit allen Höhen und Tiefen. Bei den emotionaleren Songs im Programm sieht man immer wieder Leute im Publikum weinen, bei den rhythmischen Nummern tanzen. Unsere Aufgabe ist nicht, die perfekte Show zu liefern, sondern den Menschen bewegende Momente zu schenken.
Sie nennen das „Menschendienst“. Wie meinen Sie das?
Mediziner sind für unsere Gesundheit da, die Polizei für unsere Sicherheit. Und wir Künstler sorgen dafür, dass die Leute ihre Sorgen oder Ängste vorübergehend loslassen und durchatmen können. Hoffnung und neue Energie für den Alltag geben, das ist eine eigene Form von Menschendienst. In Zeiten, wo die Krisen nicht nur nacheinander, sondern parallel passieren, kann Kunst manchmal eine Rettung sein. Der Komponist Robert Schumann hat es so ausgedrückt: „Licht senden in die Tiefe des menschlichen Herzens – des Künstlers Beruf.“
Auf Ihren Tourneen haben Sie eine PeaceBell dabei, die aus Kriegsschrott zusammengeschmolzen wurde.
Sie ist seit vier Jahren fast bei jedem Konzert dabei. Es ist immer sehr ergreifend, wenn die Glocke auf die Bühne kommt und so viele Menschen mitten in einem Pop-Rock-Event spontan eine Minute für den Frieden schweigen. Es hat bisher so gut wie nie jemand dazwischen gegrölt. Ich staune jedes Mal, was durch diese Glocke passiert.
Ihre letzte Single heißt „Wonders“. Haben Sie persönliche Erfahrungen mit Wundern?
Die Songs auf meinem Album „B.O.A.T.S“ basieren alle auf wahren Geschichten. Für mich ist es immer ein Wunder, wenn Lebenswege schlecht, voller Widerstände und Schwierigkeiten verlaufen, und Menschen es dann schaffen, das Blatt zu wenden. Ein Song auf dem Album heißt „Icon“. Da geht es um einen Schwerverbrecher, der lebenslänglich bekommen und im Gefängnis eine Wandlung durchlebt hat. Ich trete manchmal in Gefängnissen auf, und nach meinem Auftritt kam dieser ausgeglichen wirkende Mann mit langem, weißen Bart auf mich zu und wollte mir seine Zelle zeigen. Die war voller Ikonen. Er hatte im Gefängnis angefangen, sein Leben quasi neu zu bemalen, weil er seine kriminelle Vergangenheit bereute. Später ist der Mann in ein Kloster nach Griechenland gegangen und hat dort weiter Ikonen gemalt. Dass in diesem Schwerverbrecher irgendwann das Gute wachgeküsst worden ist, hat etwas von einem Wunder.
In dem Song „Home“ machen Sie sich Gedanken über den Tod. Es ist ein hoffnungsvoller Song. Also keine Angst vor dem Tod?
Genau. Angst ist das größte Manipulationsmittel, was wir Menschen haben. Wenn ich vor etwas Angst habe, dann hat diese Angst auch Macht über mich. Deswegen versuche ich, etwas dagegen zu tun. In meinem nahen Umfeld sind in den letzten Jahren ein paar Menschen gestorben, teilweise jung, teilweise unerwartet. Das hat mich sehr zum Nachdenken über den Tod gebracht.
Ihre Mutter ist sehr früh verstorben. Sie haben vor einiger Zeit ihr Tagebuch lesen können. Was haben Sie dabei über das Seelenleben Ihrer Mutter erfahren?
Ich habe sehr wenige Erinnerungen an meine Mutter, weil sie starb, als ich knapp fünf Jahre alt war. Deswegen war es für mich schön, einen Einblick in ihr Innenleben zu bekommen. Ich glaube, meine Mutter war sehr selbstlos. In ihrem Tagebuch hat sie viel über ihre Beziehung zu ihrem Mann und ihren Kindern geschrieben und darüber, wie sie meinte, sich noch mehr für die anderen einsetzen zu können, oder wo sie sich überfordert fühlt. Ich meine, mit so vielen Kindern in einem Doppeldeckerbus ohne Babysitter zu leben ist schon eine Wahnsinnsleistung. Und sich dabei nicht zu beschweren, sondern auch noch zu lächeln, das bewundere ich schon. Kinder und Familie waren ihr Bild von Glück. Sie war auch eine tief gläubige Frau.
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