Jule Schulz kennt Lena seit der ersten Minute ihres Lebens und sogar schon, als sie noch im Bauch ihrer Mutter Franziska lag, denn sie ist Lenas Hebamme. Einige Jahre später wurde sie die Frau von Stefan, dem besten Freund von Lenas Vater. Dieser Stefan hatte vor einigen Wochen eine Welle der Begeisterung und Anteilnahme ausgelöst, als er verkündete: „Ich mache für Lena einen Ironman in Neuruppin und sammle Geld, damit Lenas Wunsch, einmal nach Disneyland zu fahren, in Erfüllung gehen kann“.
Auch Jule Schulz war sofort von der Idee begeistert, auch sie kennt Lenas Leidensweg der letzten neun Monate und vor allem die Ungewissheit, ob Lena endlich wieder gesund wird und nach Hause kommen kann. Nach Leukämiediagnose, 38 Chemotherapien und vor neun Monaten der Knochenmarktransplantation ist sie mit ihrer Mutter ständig in Berlin im Krankenhaus, Papa Martin allein zu Hause. Lenas Wunsch, ein Wochenende mit ihren Eltern in Paris zu verbringen, hat dann erst ihren Vater, dann Stefan Schulz und, als die Geschichte öffentlich wurde, Hunderte von Menschen in und um Neuruppin „umgehauen“.
„Ich lief auf eine Wand von Menschen zu“
Vor drei Wochen startete der Spendenaufruf, die Vorbereitungen für den Ironman liefen auf Hochtouren und gestern war es dann so weit: Um 6.30 Uhr startete Triathlet Stefan Schulz am Ruppiner See auf die 1,8 Kilometer lange Schwimmstrecke. Danach ging es auf das Rad für 180 Kilometer. Als er um 12.30 Uhr zu Hause ankommt, um zur letzten Disziplin, dem 42-Kilometer-Lauf zu starten, wird er von 200 Menschen lautstark begrüßt. Es herrscht eine Partystimmung, mit der er nicht gerechnet hat. „Ich lief auf eine Wand von Menschen zu. Ich hatte sofort einen Kloß im Hals“, wird er später erzählen. Und einen solchen Kloß im Hals und Tränen der Rührung hatten an diesem Tag viele.
Jule Schulz hätte, wenn sie die Ruhe dazu gehabt hätte, versteckt in einer Ecke, ihre Tränen der Rührung fließen lassen. „Das haben wir abends, als alle weg waren, allein auf dem Sofa gemacht“, erzählt sie. Doch an Ruhe war nicht zu denken: Jule ist die Animateurin des Tages: Mit einem Megafon feuert sie immer wieder, eigentlich pausenlos, alle an. Freunde, Sportler, Nachbarn und einfach die Fremden, die da sind, weil die Geschichte einfach alle mitreißt.
Schon 100 Marathons gelaufen
So wie die Laufgruppe um Wolfgang Schwericke, die zu fünft gekommen ist, um die Sache zu unterstützen. „Wir nutzen heute den guten Zweck, um hier bei euch unser Ultratraining zu absolvieren, und laufen alle den Marathon mit“, sagt der Mann, der selbst schon über 100 Marathons gelaufen ist. Die Sportler um Wolfgang Schwericke legten 398 Kilometer zurück und spendeten 400 Euro.
Die komplette Handball-Herrenmannschaft des HC Neuruppin ist angereist und freut sich auf Stefan, um mit ihm mindestens eine Runde von 4,7 Kilometer zu laufen. Auch die Jugend des Vereins ist dabei: „Wir haben unsere 220 Kilometer als Spende abgegeben“, sagt Trainer Christian Will.
Für Lena wird auch Marco Meyer ein „Ironman“
Seinen persönlichen Ironman hatte Marco Meyer bereits in den Tagen vor der Veranstaltung in der Challenge-Phase absolviert. Er hatte sieben Unternehmen gewonnen, die für jeden Kilometer, den er in den sechs Tagen zurücklegte, einen Euro spendeten. Marco Meyer gab alles und legte mit seinem Rollstuhl sagenhafte 226 Kilometer zurück. Da ihm gestern ein Fan spontan die Ironman-Distanz in Euro für seine Leistung überreichte, kam er auf die stolze Summe von 1808 Euro. Doch das war dem Food-Influencer und leidenschaftlichen Sammler von Burger-Rezepten noch nicht genug. Er kreierte einen Lena-Burger, der gegen eine Spende verkauft wurde. 100 Stück waren in 20 Minuten verputzt. Marco ist ein Beispiel dafür, wie die Geschichte Fahrt aufgenommen hat.
Jule Schulz feuert Zuschauer und Mitläufer an, denn Stefan und seine Mitstreiter sehen von Runde zu Runde angespannter aus. Kein Wunder, wenn die Sonne brennt und Marathon gelaufen wird. „Ihr müsst ganz laut rufen, wenn sie wieder vorbeikommen, kommt, wir üben schon mal, das muss noch lauter gehen.“
Tränen kullern
Mittendrin Doris Schütte, Lenas Urgroßmutter, die wie alle in der Familie vor Rührung lächelt. Doch dann sagt sie: „Ich habe Lenchen auch seit neun Monaten nicht gesehen“, die Stimme der 83-Jährigen stockt, die Brille muss runter: Tränen kullern. Und so muss man sich die Stimmung vorstellen, sie schwankt zwischen euphorisch, weil Massen da sind, weil alles perfekt organisiert ist, weil alle spenden, Spaß haben. Und sogar sportlich an ihre Grenzen gehen.
Wie der nächste Verein, die Laufgruppe Havelrunner aus Zehdenick. Zu zwölft sind sie da und laufen zwischen fünf und 24 Kilometer. „So weit bin ich noch nie gelaufen, bisher waren 21 Kilometer, ein Halbmarathon, mein Längstes“, so werden alle von der Welle getragen. Alex Berg sagt: „Letztes Jahr kam Stefan zu uns und erzählte von seiner Teilnahme am Ironman auf Hawaii. Jetzt haben wir den Aufruf über Social Media bekommen und sind heute hier.“
Und schon schallt wieder Jules Stimme durch die Luft. Ein alter Lieferant aus der Nachbarschaft, Toni Wittmann, taucht plötzlich mit seiner Motorradgang auf, spendet, genießt einen Burger und ein paar Getränke. Eine Nachricht von Marco Meyer hat gereicht und alte Bekannte schauen vorbei.
Kita Wirbelwind macht Kuchenbasar
Auch in der Stadt ist die Aktion angekommen: In mehreren Geschäften stehen seit Wochen Spendendosen. Einige der Inhaber kommen persönlich vorbei und übergeben das Geld. Tim Bauer von Tim’s Barbershop hat 122 Euro dabei. Im Vodafone Business Store kamen 300 Euro zusammen. Die Kita Wirbelwind veranstaltete einen Kuchenbasar für Lena und es kamen 602,10 Euro zusammen.
Die Ruppiner Feinbäckerei gab Würstchen gegen eine Spende ab und ließ Lena an allen Verkäufen im Café teilhaben. „Wir werden mindestens 500 Euro spenden und schauen, was am Sonntag vielleicht noch dazukommt“, sagt Peter Grade. Nicht weit entfernt steht Marvin Marienfeld vom Ruppiner Sportverein „Die Maulwürfe“ mit seiner Frau und seinem Sohn am Verpflegungsstand. Die Mitglieder seines Vereins sind seit Tagen fleißig unterwegs und sammeln Spenden. Sein Verein hatte die gesamte Aktion im Internet mit der Erstellung der Website und der Organisation eines Live-Tickers unterstützt.
300 Kilometer XXL-Radetappe
Ein Aushängeschild des Vereins war neben Stefan Schulz der Radsportler Marco Wiegel. Noch vor dem Triathleten startete er mit dem Rad zu einer XXL-Etappe. Am Ende hatte er tatsächlich 300 Kilometer auf dem Tacho und erreichte das Ziel auf die Minute genau vor dem Zieleinlauf des Ironman. „Ich habe die 300 Kilometer verdoppelt und 600 Euro für den guten Zweck gespendet. Ich habe den Tag genossen, fühle mich gut und helfe gerne“, so der müde und glückliche Athlet.
23.000 Euro Spendensumme erreicht
Jule läuft derweil zur Höchstform auf: „Lena und Franziska sind live zugeschaltet“, brüllt sie ins Megafon. Die Menge jubelt. Pauken, Tröten, Kuhglocken, „The Final Countdown“ dröhnt durch die Anlage. Und dann kommen sie um die Ecke. Die Athleten des Tages.
Wie es sich gehört, gibt es Liegestütze vor dem Iroman-Finish. Stefan bleibt nur drei Minuten über seiner Bestzeit, er hat nicht nur mental, sondern auch körperlich alles gegeben. Man sieht ihm das Schniefen und das Wegdrücken der Tränen an, als er Jule in die Augen schaut. „Ich war erschlagen von der Lautstärke, von der Energie, die uns entgegenschlug“, sagt er später.
Wer die Geschichte von Anfang an kannte, musste einfach mitweinen: Lenas Papa steht im Ziel, kann sich noch aufrecht halten. Stefan, sein Freund aus Kindertagen, kommt auf ihn zu, um sie herum ein großes Getöse. Jemand hält das Handy für Lenas Liveübertragung in die Charité, die Freunde fürs Leben umarmen sich. Für einen Moment spürt man, was aus ihnen herausspringt: „Wir haben es geschafft“ - und das nicht einfach so, nein, gut 200 Menschen fühlen mit ihnen, wollen geben, was sie können, damit diese Familie wieder eine richtige Familie sein kann. Die Zeit steht kurz still.
Und dann gibt es Jubel, Sektkorken ob der tollen sportlichen Leistung und schon kommt der nächste Spendenscheck, überreicht von Christopher Wandke, 2. stellvertretender Vorsitzender des TuS Dabergotz. Thomas Kresse hat das Union-Trikot für 1000 Euro ersteigert.
„Wir sind überwältigt von der Welle der Hilfsbereitschaft und Solidarität. Die Neuruppiner sind ein Leuchtturm für gelebten Zusammenhalt“, sagt Petra Beister von der Sparkasse Ostprignitz-Ruppin. „Wir sind stolz, ein Teil dieser tollen Gemeinschaft zu sein, und haben die Spendensumme um 5.000 Euro aufgestockt.“
Das Ziel ist erreicht, Lena kann, wenn sie endlich wieder richtig gesund ist, nach Orlando ins Disneyworld fliegen - und für das Projekt von Kolibri - Krebskranke Kinder e.V. ist eine Menge Geld zusammengekommen, denn das Ergebnis kann sich wirklich sehen lassen: 23.000 Euro sind bis gestern eingetroffen und einiges ist sicher noch unterwegs. Neuruppin und Brandenburg, ihr könnt stolz auf euch sein!