Im Frühjahr 2023 fühlte sich Doreen Oerter schwach und schlapp. Der Hausarzt schrieb die 52-Jährige aus Wittstock daraufhin für eine Woche krank. „Meine Mama sollte sich nur etwas schonen, dann würde es wieder weitergehen wie bisher“, erinnert sich Tochter Vanessa Holtmann. Was dann jedoch kam, „zog uns allen den Boden unter den Füßen weg.“ Die 31-Jährige erzählt die Leidensgeschichte ihrer Familie.
Noch am Abend des Arztbesuches kam ein Krankenwagen. Doreen konnte nur noch schnell ein paar Sachen packen und wurde sofort ins Krankenhaus nach Neuruppin gebracht. „Keiner von uns wusste, was los war. Eine erste Diagnose bekamen wir erst drei Tage später“, berichtet Vanessa. Sie wussten nur, dass die Blutwerte ihrer Mutter lebensbedrohlich waren. Normal wären um die 18.000, ihre Mutter hatte weit über 100.000 weiße Blutkörperchen.
Schock – wenn die Mutti todkrank ist
Am nächsten Tag klingelt das Diensttelefon der Immobilienmaklerin. Erst dachte sie, es sei der Kindergarten ihrer Tochter Emma, aber es war die Arztpraxis. „Da bin ich erst mal zusammengebrochen, habe geweint.“ Vanessa Holtmann wurde von ihrer Kollegin sofort nach Hause geschickt und traf sich mit ihrem Vater, damit keiner von beiden allein zu Hause ist. „Er kam nur für eine Stunde vorbei, weil wir nicht viel geredet haben.“
In den folgenden Tagen bestätigte sich der Verdacht auf akute Leukämie. „Wenn die weißen Blutkörperchen die roten verdrängen, sich vermehren und dadurch die roten Blutkörperchen absinken, kann es zu Organversagen kommen, wenn man nicht schnell reagiert“, weiß Vanessa. „Akute Leukämie. Wenn meine Mutter noch eine Woche länger nicht zum Arzt gegangen wäre, ...“ Den Satz will sie gar nicht beenden.
Das war Anfang März. Es folgten die schnelle Verlegung nach Potsdam, viele Untersuchungen. Herz, Lunge, Organe – der körperliche Zustand wurde beurteilt und in Zusammenarbeit mit der Charité und einer Professorin in Bayern die genaue Art der Leukämie bestimmt. Ein Arzt habe es ihr so erklärt: „Leukämie ist nur der Nachname, den Vornamen müssen wir noch herausfinden.“ Dann konnte die Art der Chemotherapie festgelegt werden, „denn auch wenn es einen Knochenmarkspender gibt, sind vorher drei Chemoblöcke nötig“. Wenn es keinen geben sollte, würde es in Abständen immer wieder einen Chemo-Block geben. „Wir haben uns alle in Potsdam testen lassen, ob wir als Direktspender infrage kommen. Leider war das nicht der Fall.“
Die Folgen der Krebserkrankung für den Alltag
Einen Tag, nachdem sie erfahren hatte, dass ihre noch junge Mutter schwer erkrankt war, habe Vanessa eine Art innere Blockade gespürt. „Ich habe nicht mehr geweint, aber in der Zeit danach habe ich meinen Bruder, meinen Vater, meine Tante und meine Mama in den Arm genommen, wenn es zwischendurch erlaubt war.“ Es war der Punkt gekommen, an dem sie stark sein musste. „Jetzt wusste ich, dass ich es tun musste. Mein Bruder wohnt weiter weg. Mein Papa kam abends in ein leeres Haus.“
Sofort reduzierte sie ihre Arbeitszeit um drei, später um vier Stunden, um genügend Besuchstage in Potsdam zu haben. Bei einem der vielen Besuche am Krankenbett ihrer Mutter versprach Vanessa: „Ich werde das öffentlich machen, wenn du einen Spender brauchst. Ich werde die ganze Welt für dich auf den Kopf stellen. Du musst mir nur sagen, wann ich anfangen soll“.
Die Suche nach einem Spender
Anfang Mai stand die traurige Wahrheit fest, dass es in der weltweiten Kartei keinen passenden Spender für Doreen gibt und der Zeitpunkt gekommen ist, öffentlich um Hilfe zu bitten. Vanessa wollte ihr Versprechen einlösen und eine Medienkampagne starten, um geeignete Spender für ihre Mutter zu finden. „Es war viel schwieriger als ich dachte. Ich habe mich gleich abends hingesetzt und angefangen zu schreiben, habe es immer wieder weggelegt, konnte es nicht so rüberbringen, wie ich wollte“, blickt sie zurück.
Doch nach drei Tagen und mithilfe einer Freundin stand der Text. Die DKMS hatte für Vanessa und ihren „Doreen-Aufruf“ eine persönliche Betreuerin bestimmt und so wuchsen alle über sich hinaus. Zahlreiche Aktionen wurden durchgeführt, Spenden- und Typisierungsaufrufe verbreiteten sich in den sozialen Medien, im Radio und in den Zeitungen.
Binnen drei Monaten ließen sich fast 400 Menschen registrieren oder sogar schon typisieren. „Bei vielen Sportveranstaltungen in Wittstock, in der Kita unserer Tochter Emma, bei der Blutspende des DRK mit Unterstützung der Sparkasse, beim Freyensteiner Kulturverein – überall hat man uns mitgenommen.“ Vanessa Holtmann blickt zurück, auf die Zeit, in der es um Leben und Tod ging: „Manchmal waren wir überrascht, wie viele kamen, und manchmal waren wir enttäuscht, dass so wenige kamen. Wir standen unter Druck, weil kein Spender auf der Millionenliste stand, wir hatten einfach Angst um Mama“.
Der Tag der guten Nachricht
Mitte Juli kam die Nachricht, auf die Freunde und Bekannte so gehofft hatten. Die dritte Chemo stand an – und damit auch ein routinemäßiges Aufklärungsgespräch in der Charité. „Professor Dr. Blau, den Namen werde ich nie vergessen, war wohl etwas überrascht, dass wir als großes Kommando dort auftauchten.“ Mutter, Vater, Tante und Vanessa waren vor Ort.
Der Arzt erklärte, welche Möglichkeiten der Weiterbehandlung es ohne Spender gäbe und wie die Chancen stünden. „Dann sagte er plötzlich, dass es einen Spender gäbe, der auch schon medizinisch getestet sei, also wirklich infrage käme. Und auch immer noch bereit wäre zu spenden“, erzählt sie sehr bewegt. „Da habe ich zum ersten Mal wieder richtig geweint, die Tränen sind nur so geflossen, einfach vor Freude.“
Eine Spenderin aus Kanada! „Nachdem wir wochenlang so fertig waren und auch nicht gewusst hatten, wie es weitergeht, war das wie ein Sechser im Lotto. Nein, es war viel besser. Mama hat die Chance, wieder richtig gesund zu werden.“ .
Vor der möglichen Transplantation stand noch die dritte Chemotherapie in Potsdam an. Doch die gute Nachricht wurde sofort an den engsten Familienkreis weitergegeben. Vanessas Mutter wollte den OP-Termin abwarten, um sich bei allen zu bedanken, die sich in den Wochen für sie eingesetzt hatten. Für diesen Dankesbrief setzte sich Vanessa noch einmal an den Schreibtisch, schließlich sollten alle Unterstützer überall zur gleichen Zeit das Gleiche erfahren
Wenn sie nichts von Mutti hört
Was Vanessa Holtmann in diesen Wochen stark gemacht hat, waren die Momente, in denen sie Resonanz auf ihre Aktionen bekam. Zum Beispiel von zwei 16-jährigen Mädchen, die nach weiteren Flyern fragten, um sie in Geschäften und Einrichtungen aufzuhängen. „Es hat so sehr geholfen, die Unterstützung zu sehen und auch, wie viele den Status geteilt haben, auf allen Social-Media-Kanälen. Ich habe auch meiner Mutter gezeigt, wie viele unserer Kontakte Bilder geteilt und sich beteiligt haben“.
Der lang ersehnte Tag der Transplantation war der 2. August. „Zwischen dem zehnten und zwanzigsten Tag erfahren wir, ob die Stammzellen angewachsen sind oder nicht.“ Natürlich hoffen sie auf eine positive Nachricht. „Und dann, wenn sie angewachsen sind, müssen sie langsam ihre Arbeit aufnehmen, Blut produzieren.“ Da ihr Mund- und Rachenraum bereits stark entzündet ist und sie künstlich ernährt wird, wird ihre Mutter noch lange unter den Folgen leiden. Und erst ein halbes Jahr später kann mit den ersten Impfungen begonnen werden, um die Abwehrkräfte gegen Krankheiten aufzubauen, „die man als Kind alle schon einmal hatte“.
Wenn sie in diesen Tagen nichts von ihrer Mama hört, wenn Anrufe unbeantwortet bleiben, bekommt sie panische Angst. Tränen befeuchten ihre Augen, als sie sagt: „Wenn sie wegdämmert, vor lauter Schmerzmitteln gar nicht mehr weiß, ob sie angerufen hat, dann mache ich mir große Sorgen.“
Wie lang der Weg noch ist und wie viel Kraft diese Familie noch brauchen wird, spürt man, als sie sagt: „Ja, ich habe heute von ihr gehört. Sie wurde auf die Intensivstation verlegt. Wegen ihres Blutdrucks. Aber ihre Schwester, meine Tante, war da und hat gesagt, dass sie dort in guten Händen ist.“