Da ist er also. Endlich! Der Junge, dessen Karriere einst in Fußgängerzonen badischer Mittelzonen begann. Der als Schüler in einer Band namens – man will es kaum glauben – Deadly Punks spielte. Und der nun schon seit Jahren mit unablässiger Omnipräsenz die Rundfunk-Frequenzen des DACH-Raums fest im Griff hat (nicht mit Punk): Max Giesinger.
Der Posterboy des deutschen Pop existiert also nicht nur im Radio. In der Verti Music Hall steht er an diesem Sonntagabend tatsächlich auf der Bühne. Leibhaftig, mit dichter Zauselmähne und olivgrünem Hemd über olivgrünem T-Shirt.
„Hat’s euch auch a bissele gefehlt?“
„Dass das endlich mal noch stattfindet. Wer hätte das gedacht?“, fragt er selbst etwas ungläubig in die knapp 4.500 Fans fassende Halle. Es ist der Nachholtermin eines Konzerts, das vor knapp einem Jahr hätte stattfinden sollen – und das selbst diverse Male verschoben wurde. Corona sei Dank. Jetzt aber. Endlich sei es wieder möglich, auf Tour zu sein. Seine aktuelle hat er passend zu den zurückliegenden Unwägbarkeiten der Live-Branche „Irgendwann ist jetzt“ getauft. „Hat’s euch auch a bissele gefehlt?“, will der aus Waldbronn stammende Sänger mit sattem badischen Dialekt vom Berliner Publikum wissen.
Ganz offensichtlich hat es das. Die Halle ist voller euphorisierter Fans, die ihren Max an diesem Abend ausgiebig feiern. Ein Gefühl, das auf Gegenseitig beruht. Giesinger steht kaum mehr als die Hälfte der Zeit auf der Bühne, den Rest verbringt er davor – oder mittendrin. Der 34-Jährige nimmt sich Zeit für seine Fans.
Er geht Hände schüttelnd und Umarmungen verteilend durch die Reihen – „Servus, Servus“ –, grüßt Kinder, die auf den Schultern ihrer Eltern sitzen, Teenies, Fans, die die Pubertät schon hinter sich gelassen haben, und solche, die kurz vorm Renteneintrittsalter stehen. Ein Max Giesinger-Konzert bildet erstaunlich präzise den demografischen Querschnitt jener 80 Millionen ab, die er in seinem erfolgreichsten Song besingt und der – selbstverständlich – ganz am Ende der Setlist stand.
Max Giesinger spielte eine Setlist quer durch seine Diskografie
In den gut zwei Stunden davor singt sich Giesinger mit gefühlvoll-kratziger Stimme und Band quer durch seine mittlerweile vier Alben umfassende Diskografie. Von seiner jüngsten Single, der Ballade „4000 Wochen“, die er auf einem kleinen Podium inmitten des Publikums vortrug, über „Auf das, was da noch kommt“, eine Kollaboration mit Lotte, bis hin zu „Kalifornien“ von seinem Debütalbum, war vieles dabei, was der Musiker im Laufe seiner Karriere vorgelegt hat.
Zwischen – und manchmal auch während – seinen Songs schnackte der Sänger ausgelassen mit seinen Fans. Seiner badischen Aussprache verlieh der seit Jahren in Hamburg lebende Popstar dabei mit ungeniert phonetischer Freude hier und da eine hanseatische Note. In Sachen Anekdoten blieb er allerdings ortsspezifisch.
So erzählte er davon, dass er keine 300 Meter entfernt an der Warschauer Brücke sich einst im rauen Berliner Winter mit zitternder Stimme und Gitarre verdingte. Dass er heute in der ausverkauften Halle spielt? „Isch schon ganz geil, ne.“ Die deutlichste Hommage erwies er dem Hauptstadt-Publikum allerdings, als er das Wort „Kalifornien“ beim Vortragen des gleichnamigen Songs kurzerhand gegen „Berlin City“ tauschte, was inhaltlich tatsächlich keinerlei Unterschied machte.
Giesinger wird immer wieder Belanglosigkeit vorgeworfen
Es ist jenes Unspezifische, wenig Authentische in den Songs von Max Giesinger und seinen deutschen Pop-Kollegen, das der Satiriker Jan Böhmermann vor ein paar Jahren mit „Menschen Leben Tanzen Welt“ persiflierte. An der Zusammenstellung der zufällig aneinandergereihten Textfragmente für das Lied waren unter anderem Affen beteiligt. Es ist ein Seitenhieb, der nicht ganz von der Hand zu weisen ist. Dass Giesinger ein Meister des Generischen ist, zeigt sich auch beim Konzert in Berlin.
Da ist etwa der Backdrop, der eine Straße zeigt, die auf die Skyline einer amerikanischen Großstadt zuführt und damit jenen großformatigen Fotos eines skandinavischen Möbelherstellers gleicht, die zwischen Stockholm und Heilbronn in ungezählten Wohnzimmern hängen. Oder Songzeilen wie „Viele Wege führen nach Rom / Wo fangen wir an? / Wenn wir jetzt die Kurve kriegen / Fahren wir nicht alles an die Wand… Lass uns endlich 'was riskieren / Für dich, für mich“.
Das musikalische Äquivalent eines Döners, der ohne Zwiebeln und nicht scharf bestellt wird
Nein, riskiert wird beim Konzert eines deutschen Pop-Poeten wenig. Serviert wird gefälliges, leicht bekömmliches – und ja, vielleicht auch belangloses. Hier ist nichts politisch, niemand wird vor den Kopf gestoßen, keiner herausgefordert. Und so ist auch Max Giesingers lange erwartete Berlin-Show wie das musikalische Äquivalent eines Döners, der ohne Zwiebeln und nicht scharf bestellt wird. Aber mal Hand aufs Herz: auch ein solcher Döner schmeckt immer noch verdammt gut.
Beim Karaoke singt Max Giesinger Rammstein
Im Berliner Publikum dürfte sich an diesem Sonntag jedenfalls kaum jemand beschwert haben. Was wohl auch daran liegt, dass Giesinger – Songinhalte hin oder her – ein so leidenschaftlicher wie ansteckender Performer ist. Den Vorwurf, er würde für seine Fans nicht alles geben, muss er sich nun wirklich nicht gefallen lassen.
Giesinger rief das Publikum sogar zum Karaoke-Spiel auf und ging dafür mit einem Jutebeutel voll Songtitel durch die Reihen. Den gezogenen Song performte er anschließend. Als ein junger Fan „Sonne“ von Rammstein aus dem Beutel zog, reagierte der Sänger zwar zunächst mit „aber ich wollte doch Shakira singen“, holte schließlich aber doch einen erstaunlich soliden Till Lindemann aus sich raus – inklusive martialischer Fausthiebe auf den Oberschenkel.
Die Berliner quittierten das metallene Intermezzo mit dem beinahe größten Applaus des Abends. Dabei sagte Max Giesinger dem Deutsche Bahn-Magazin „mobil“ einst im Interview, er stehe nicht auf Metal und werde auch „nie der roughe Indie-Künstler sein können, der krass anecken muss“. Nun, das muss er auch nicht. Der Pop singende Max Giesinger reicht vollkommen aus. Schließlich übt er seinen Beruf mit infektiösem Spaß aus. Am Ende des Tages gibt es kaum Authentischeres.
In einer früheren Version des Textes hieß es, der Song „Auf das, was da noch kommt“ stamme aus einem Album von Max Giesinger. Tatsächlich stammt der Song aus dem Album „Glück“ von Lotte. Wir haben die Stelle korrigiert.