Die Szenerie, die sich nach dem Austeigen aus der U5 am Bahnhof Kaulsdorf Nord bietet, ist im ersten Moment erschreckend. In den Ecken der verwaist wirkenden Betonrampen häuft sich der Müll. Statt belegte Brötchen oder Fahrkarten gibt es im Gang vietnamesische Plüschtiere zu kaufen. Das einstige Gebäude der Deutschen Post ist schon lange dem Verfall preisgegeben, genauso wie Apotheke und Supermarkt, die ebenfalls schon lange geschlossen sind.
Doch nach nur ein paar Schritten in das „Rote Viertel“ ändert sich das Bild. Die erwartete Betonwüste bleibt aus. Grüne von dichten Bäumen gesäumte Wege führen in ein recht gepflegt wirkendes Wohnquartier mit weitläufigen Innenhöfen und bunt sanierten Fassaden.

Kein Leerstand im Roten Viertel

Nach der Wende wurden die elfgeschossigen Wohnscheiben (WBS 70) und die zwölf Etagen hohen Punkthäuser rund um den Cecilienplatz nicht nur ordentlich gedämmt, sondern auch mit zum Teil sehr großzügigen Balkonen aufgerüstet. Die nachträglich angebauten Fahrstühle sind hinter bunten Glastürmchen verborgen, so dass nur noch wenig an graue Platte erinnern.
Trotz Stadtrandlage gibt es keinen Leerstand in dem Viertel, in dem das Berliner Wohnungsbaukombinat bis 1989 über 3500 Wohnungen errichtete und das nach der ursprünglichen Farbe der Fassadenplatten benannt wurde.
„Das Rote Viertel ist sehr beliebt als grünes Quartier. Viele Bewohner wissen die Ruhe nach der Arbeit hier zu schätzen“, sagt Elke von Ab, Servicebüroleiterin der Stadt und Land. Der kommunalen Wohnungsgesellschaft gehört ein Großteil der Wohnungen in der Großsiedlung Marzahn-Hellersdorf, der letzten zu DDR-Zeiten gebauten Neubausiedlung in Ost-Berlin. Die Bestandsmieten liegen bei 6 Euro pro Quadratmeter und damit weit unter dem Berliner Durchschnitt (24,54 Euro), sogar unter der Einstiegsmiete beim sozialen Wohnungsbau von 6.50 Euro.
Jeder fünfte Bewohner des Viertels ist Erstbezieher. Das Durchschnittsalter liegt bei 61,4 Jahren und macht die Großsiedlung damit zum „ältesten“ Viertel in Hellersdorf. Wo einst Kitas standen, werden nun neue Wohnungen hochgezogen. Die Spielplätze wirken verwaist, dafür gibt es immer mehr Senioren-Sportgeräte. „Trotz der niedrigen Mieten bekommen wir hier noch keine Studenten hin“, sagt Elke von Ab. Dabei könnte die Anbindung schlechter sein. 25 Minuten dauert es mit der U5 bis zum Alexanderplatz.
Das "Rote Viertel" in Marzahn-Hellerdorf entstand kurz vor der Wende als eine der letzten Großsiedlungen in Ost-Berlin. Nach dem Mauerfall wurde das Quartier am östlichen Berliner Standtrand umfassend saniert.
Das „Rote Viertel" in Marzahn-Hellerdorf entstand kurz vor der Wende als eine der letzten Großsiedlungen in Ost-Berlin. Nach dem Mauerfall wurde das Quartier am östlichen Berliner Standtrand umfassend saniert.
© Foto: Maria Neuendorff
Doch das Leben vor Ort sei den jungen Leuten wahrscheinlich nicht quirlig genug, vermutet die Quartiersmanagerin und zeigt einen Bewohner-Garten mit Holzbackofen für eine Seniorenanlage. Statt kleiner Cafés gibt es eine Cocktailbar und ein Karatestudio. Viele Ladenlokale in den Erdgeschossen der Plattenbauten stehen leer oder werden für soziale Projekten zwischengenutzt. „Wir würden die Räume auch gerne für Ärzte bereithalten, wenn wir dazu die entsprechenden Nutzer hätten“, erklärt Ralf Protz, Sprecher der Wohnungsbaugesellschaft Stadt und Land.
Dass die Ärzte lieber in der Innenstadt bleiben, wo es mehr Privatpatienten gibt und mehr Menschen, die sich auch eine Zahnreinigung leisten können, sei nicht das Problem der Stadtrandsiedlungen, sondern der Gesundheitspolitik, heißt es auch auf der Fachtagung „Resilienz und Zukunft von (Groß-) Siedlungen“. Ende August nahmen dabei Stadtentwicklungs-Experten neben dem Roten Viertel auch das Falkenhagener Feld in Spandau und das Brunnenviertel in Wedding etwas genauer unter die Lupe.

Knapp ein Viertel der Berliner leben in Großsiedlungen

Die Probleme seien überall ähnlich, resümierten die Teilnehmer in ihren Arbeitsgruppen. Die städtischen Wohnungsunternehmen seien gezwungen, vor Ort Lösungen für Probleme zu finden, die eigentlich woanders angegangen werden müssten, war das Fazit.
Knapp ein Viertel der Berlinerinnen und Berliner lebt laut der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung in Großsiedlungen. Rund ein Drittel der Mietwohnungen in den Großsiedlungen wird von Berlins landeseigenen Wohnungsunternehmen bewirtschaftet.
Während es zu DDR-Zeiten etwas Besonderes war, eine Wohnung mit Balkon und Zentralheizung zu bekommen, fühlen sich heute die Wenigverdiener an den Stadtrand verdrängt“, sagt Bernd Hunger, Vorsitzender des Kompetenzzentrums Großsiedlungen e.V. Alleine dadurch könnten schon sie keine positive Bindung zu den Vierteln entwickeln. „Auch die Ost-West-Schere wird dabei immer größer“, findet Hunger.
Der Stadtforscher hat im Rahmen einer Studie des Kompetenzzentrums die großen Wohnsiedlungen der 1960er- bis 1980er-Jahre beleuchtet. „Wenn sich in Zehlendorf jemand die Wohnung nicht mehr leisten kann, dann bekommt er gesagt, hier haben wir nichts mehr für dich, wenn dann nur noch Marzahn-Hellersdorf“, sagt Hunger.

Die Probleme mit der Verdrängung

Auch Stadt-und-Land-Sprecher Protz findet, dass neue Sozialwohnungen besonders in den alten gutbürgerlichen Vierteln errichtet werden sollten und nicht unbedingt noch weitere in Hellersdorf, wo die Mieten und damit das Durchschnittseinkommen sowieso schon niedrig sind.
Dazu würde er auch gerne an eine alte Idee aus den letzten DDR-Jahren anknüpfen, in denen man vorhatte, Kitas je nach Bedarf und Bevölkerungs-Entwicklung zu Grundschulen und später in Oberschulen umzuwandeln. „Das könnte man bei der Planung gleich mitdenken und die Gebäude später für mehrere Generationen nutzen, ohne immer wieder abzureißen und neu zu bauen.“

76 Prozent der Mieter mit Wohnungen zufrieden

Doch derzeit ist die Stadt und Land im Roten Viertel bemüht, genug Vandalismus-resistente Bänke vorzuhalten. „Es klingt vielleicht profan, aber für viele alte Menschen ist es enorm wichtig, dass sie in ihrem direkten Wohnumfeld Sitzgelegenheiten haben, damit sie vor die Tür gehen und am sozialen Leben teilhaben können.“, erklärt Protz.
Schandfleck: Die Läden am Bahnhof Kaulsdorf Nord in Berlin-Hellerdorf sind geschlossen und verfallen zusehends.
Schandfleck: Die Läden am Bahnhof Kaulsdorf Nord in Berlin-Hellerdorf sind geschlossen und verfallen zusehends.
© Foto: Maria Neuendorff
Eine aktuelle Umfrage der Stadt und Land unter ihren Bewohnern habe ergeben, dass im Roten Viertel 76 Prozent der Mieter mit ihren Wohnungen zufrieden bis sehr zufrieden seien. „68 Prozent fühlen sich in ihrem Wohnumfeld sehr geborgen und 86 Prozent halten nicht nur gerne mit dem Nachbarn vor der Tür ein Schwätzchen, sondern würden ihm auch den Wohnungsschlüssel zum Blumengießen anvertrauen“, zitiert Protz aus der hausinternen Umfrage.
„Die meisten Menschen, die in Großsiedlungen aufgewachsen sind, leben dort sehr gerne“, ist auch die Erfahrung von Ulrich Schiller, Chef der städtischen HOWOGE, die mit 75.650 Wohnungen zu den größten Vermietern in Deutschland gehört. Trotzdem dürfe man auch die negativen Entwicklungen nicht kleinreden, betont Schiller. „Es gibt Viertel, da wird der Müll nicht mehr in die Tonne geworfen, weil Drumherum so viele Spritzen liegen, dass sich kein Kind der Tonne auf fünf Meter nähern will“, berichtet Schiller.
Was die allgemeinen Müllprobleme anginge, so gebe es noch ganz andere Hindernisse. Weil zum Beispiel die berüchtigte Neuköllner High-Deck-Siedlung mit rund 6000 Bewohnern, in der Jugendliche in der Silvesternacht einen Bus angezündet hatten, unter Denkmalschutz gestellt wurde, dürften gewisse Abfalleimer dort erst gar nicht aufgestellt werden, berichtet Schiller. „Es kann doch nicht sein, dass ein Stück Beton wichtiger ist als die Lösung eines gravierenden Problems“, ärgert sich der Wohnungswirt.

Fehlende Daseinsvorsorge vor Ort

Ein weiteres sei, dass der Online-Handel die Kaufkraft gerade aus dem Einzelhandel der Großsiedlungen abzieht. Dabei sind diese einst von den Architekten so angelegt worden, dass sie die Daseinsvorsorge vor Ort übernehmen können. Für Homeoffice wiederum seien viele der Wohnungen eher nicht so geeignet. Neue Arbeitsbereiche könnten deshalb zum Beispiel in den geschlossenen Supermärkten oder Bibliotheken eingerichtet werden, schlägt Schiller vor.
Blick auf einen Biergarten auf dem Cecilienplatz im "Roten Viertel" von Berlin-Hellersdorf.
Blick auf einen Biergarten auf dem Cecilienplatz im „Roten Viertel" von Berlin-Hellersdorf.
© Foto: Maria Neuendorff
Problematisch für eine positive Entwicklung der Großsiedlungen findet der HOWOGE-Chef auch, dass Carsharing außerhalb des S-Bahn-Ringes gar nicht angeboten wird.

Wohnungen statt Parkplätze

So bleiben auch viele Bewohner des Roten Viertels weiter auf das eigene Auto angewiesen. Dabei versucht die städtische Wohnungsbaugesellschaft auch dort, die Parkflächen zu Gunsten von dringend benötigten Neubauwohnungen zu reduzieren. „Bisher verfügen rund 56 der Haushalte über einen eigenen Pkw“, erklärt Protz.
Eine neue Regelung der Stadt und Land besagt, dass beim Neubau für zwei Wohnungen nur noch ein Parkplatz geschaffen werden muss. „Das ist mit ein Grund, warum auch hier die Akzeptanz der Nachbarn in Bezug auf Neubau und Zuzug in der vergangenen Zeit rapide heruntergegangen ist“, erklärt Protz.

Angst vor sozialem Abstieg

Daneben ist auch die Angst vor Migration und Wandel zu spüren. „Ich wohne sehr gerne hier, denn noch ist es ruhig“, sagt eine 42-jährige Mutter, die gerade vom Einkaufen kommt. „Aber wer weiß, wer hier noch so alles hinkommt“, fährt sie fort und deutet auf die halbfertigen Sechsgeschosser an der Bodo-Uhse-Straße.
„Sanierung, Neubau und Zuzug werden in den Großsiedlungen überwiegend als negativ betrachtet“, berichtet auch Ute Krüger, Gruppenleiterin Integration im Quartier in der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Bauen und Wohnen. Dabei hätten die Bewohner unter anderem Angst vor weiterem sozialen Abstieg zum Beispiel durch den Zuzug von Geflüchteten, selbst wenn der Ausländer-Anteil im Quartier unterdurchschnittlich niedrig sei. „Es wäre deshalb gut, die vom Staat und Stadtplanern oft so propagierte ,soziale Mischung‘ einmal genau zu definieren und zu sagen, was diese eigentlich bewirken soll“, findet Krüger.
Eine soziale Mischung zu erzwingen, sei der falsche Weg, ist auch die Meinung von Ulrike Hamann, Chefin des Berliner Mietervereins. Viel wichtiger sei es, die schon vorhandenen Ressourcen in den Großsiedlungen über die Finanzierung einzelner sozialer Projekte hinaus langfristig zu stärken und die Quartiere so auszustatten, dass sie ihre Aufgabe zur Daseinsvorsorge erfüllen könnten.
Das ist im Falle des Roten Viertels gar nicht so einfach. Das leerstehende, verwahrloste Einkaufszentrum rund um den Bahnhof gehört nicht dem Land, sondern drei verschiedenen privaten Eigentümern, die sich seit Jahren nicht über die Entwicklung des Areals einig werden. Die Abwärtsspirale des einst geschäftigen Bahnhofsumfeldes ... habe allerdings zugegebenermaßen schon vorher begonnen, betont Stadt- und Land-Sprecher Protz. „Nämlich mit dem Auszug der kommunalen Galerie und der Schließung der Bezirksbibliothek.“